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Ein Leben im Ghetto

Von Edgar Schütz

Politik

Pristina - Am Checkpoint zur serbischen Enklave rund um das Kloster Gracanica nahe Pristina ist die Fahrt jäh zu Ende. "Ich kann hier warten", sagt der albanische Taxifahrer, "aber mit hinein komme ich nicht. Es wäre nicht gut, wenn man mich sieht."


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Rund 4.000 Serben leben in Gracanica, abgeschottet von Soldaten der Kosovo-Friedenstruppe KFOR. "Wir können nicht sagen, dass unsere Lage gut ist", klagt auch der serbisch-orthodoxe Bischof im Kosovo, Artemije, im Vorfeld der Parlamentswahlen vom 17. November. Viel Hoffnung auf bessere Zeiten hat er nicht.

"Zweieinhalb Jahre nach Eintreffen der Internationalen Gemeinschaft und der KFOR können wir uns nicht frei bewegen. Es werden uns jegliche Menschenrechte abgesprochen und es gibt keine Aussicht, dass sich etwas ändert", meint der Bischof. Ob das Abkommen, das UNMIK-Chef Hans Häkkerup mit dem Leiter des Belgrader Kosovo-Koordinierungsausschusses, Nebojsa Covic, abschloss, eine wesentliche Verbesserung bringen wird, bleibt offen. Vorerst trauen sich die Serben ohne Konvoi und dem Schutz von KFOR-Panzern nicht mehr aus ihren Dörfern heraus.

In der Nähe von Gracanica liegt ein Autobus im Graben. Er war von Kosovo-Albanern in die Luft gesprengt worden. 17 Serben fanden den Tod. Als Racheakt wurde ein paar Tage später ein Bus mit Kosovo-Albanern gestürmt und angezündet. Seit diesen Gewaltakten ist das freie Bewegen für die Serben völlig unmöglich geworden. "Wir leben weiter in Enklaven", klagt Artemije, "diese Enklaven sind nichts anderes als Ghettos. In diesen Ghettos sind wir einigermaßen sicher, weil die KFOR auf uns aufpasst. Aber ein Häftling ist in einem Gefängnis auch sicher. Es gibt Wachen vor der Türe, aber sie haben keine Freiheit. Und wir sind auch nicht frei."

Seit dem Einzug der KFOR seien "schlimme Dinge passiert", so Artemije, "und die Internationale Gemeinschaft weiß darüber sehr genau Bescheid. Unter ihrer Präsenz sind über 250.000 Serben und andere Nicht-Albaner aus dem Kosovo vertrieben worden. Rund 1.300 Serben wurden umgebracht, ungefähr genauso viele gekidnappt. Wir wissen immer noch nichts über ihr Schicksal. Rund 40.000 serbische Häuser wurden zerstört, über 100 serbische Dörfer niedergebrannt, über 100 Kirchen und Klöster kaputt gemacht. Zahlenmäßig sind die Verbrechen den Serben gegenüber zuletzt zurückgegangen. Aber bloß, weil es nur noch wenige Serben hier gibt."

In den Wochen vor den Parlamentswahlen habe die Gewaltakte zugenommen, klagt Artemije, "offenbar sollen die Serben, die noch hier sind, auch noch vertrieben werden. Ihnen wird das Vieh von der Weide gestohlen. All diese Sachen wurden KFOR und UNMIK berichtet. Aber es wurde bisher kein einziger Fall aufgeklärt. Auch die Morde nicht. Nicht einer wurde bisher deswegen verurteilt. Es sind schon einige Albaner vor Gericht gestanden, aber Urteile hat es nicht gegeben. Die Richter sind Albaner, die Staatsanwälte sind Albaner, die Verteidiger sind Albaner, die Zeugen sind auch Albaner. Was kommt dabei heraus? Keiner ist schuldig."

"Wir glauben nicht, dass sich etwas verbessert", sieht Artemije wenig Hoffnung, "nachdem das unter UNMIK-Aufsicht passieren kann, haben wir große Angst vor der Zukunft. Was wird erst geschehen, wenn alle Macht in den Händen der Albaner liegt. UNMIK und KFOR wissen, dass hier der Terrorismus regiert. Sie wollen sich auf diesen Kampf nicht einlassen, sondern nur ihre eigenen Leute beschützen." Die internationale Gemeinschaft, so der Bischof, müsse aber die UNO-Resolution 1244 implementieren, derzufolge das Kosovo Teil Jugoslawiens ist. "Die Resolution ist die Basis für die Lösung aller unserer Probleme. Jeder, der sie nicht erfüllt, muss bestraft werden."