Im Alter von 94 Jahren ist Freitagnachmittag in Turin der Rechtsphilosoph und Senator auf Lebenszeit Norberto Bobbio gestorben. Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi sagte in seiner Kondolenz, dass Italien mit Bobbio einen stolzen und gerechten Mann verliere, eine außergewöhnliche, strenge und sensible, neugierige und weise Persönlichkeit. Bobbio sei ein Lehrer der Freiheit, kritisches Gewissen der Nation, ein Modell für eine glühende und zähe Sorgfalt für die Demokratie und ein konsequenter und brillanter Zeuge jener Werte der Freiheit und Gerechtigkeit gewesen, die das Fundament der Republik darstellen, sagte Ciampi.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 20 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der am 18. Oktober 1909 in Turin geborene Norberto Bobbio studierte Jura und Philosophie, Studien, die er 1931 bzw. 1933 abschloss. Schon früh schloss er sich der antifaschistischen Bewegung im Rahmen der Gruppe "Giustizia e liberta" (Gerechtigkeit und Freiheit) an und wurde 1935 kurz verhaftet. 1942 zählte er zu den Mitbegründern der Aktionspartei, die mit Feruccio Parri kurzzeitig den ersten Nachkriegsministerpräsidenten stellte, bei den folgenden Wahlen aber erfolglos blieb.
Bobbio, der sich nach dem Abschluss seiner Studien mit Forschungen zur Rechtsphilosophie beschäftigte, 1939 eine Lehrstelle an der Universität Siena antrat und 1940 nach Padua wechselte, zog sich nach dem Scheitern seiner Kandidatur für einen Parlamentssitz aus der aktiven Politik zurück. 1948 bekam er eine Professur an der Universität in Turin, zuerst an der juridischen Fakultät und ab 1972 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1984 an der Fakultät für Politische Wissenschaften.
Bobbio zu dessen wissenschaftlichen Vorbildern u.a. Hans Kelsen gehörte, publizierte in zahlreichen wissenschaftlichen Zeitschriften, aber auch in der Turiner Tageszeitung "La Stampa". In seinem 1999 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch "Vom Alter" zitiert Bobbio selbst aus Schriften der unmittelbaren Nachkriegszeit, in denen er seine politische Philosophie dargelegt hatte: "Misstrauen gegenüber einer Politik, die zu stark von Ideologien geprägt ist und das politische Spektrum daher in feindliche, einander ausschließende Gruppen spaltet; Verteidigung des Prinzips gesellschaftlicher Steuerung durch Gesetze gegen die Idee einer Steuerung durch Menschen; Lob der Demokratie nicht zuletzt wegen ihrer erzieherischen Funktion für ein Volk, das allzu lange in totaler politischer Unmündigkeit gehalten worden war; uneingeschränktes Eintreten für eine laizistische Politik, wobei der Laizismus als praktische Umsetzung der kritischen Haltung gegenüber den entgegengesetzten dogmatischen Lehren der Katholiken und der Kommunisten verstanden wurde.
Bobbio, der sich von den Kommunisten immer klar abgrenzte, war ein unermüdlicher Vertreter des intellektuellen Dialogs zwischen Ost und West. 1984 wurde er von Staatspräsident Sandro Pertini zum Senator auf Lebenszeit ernannt. Schon zu Beginn der Neunzigerjahre kritisierte er den politischen Aufstieg Silvio Berlusconis, hinter dessen Partei Forza Italia er eine faschistische Entwicklung befürchtete.