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Ein Leben in engen Grenzen

Von Gerhard Lechner

Reflexionen

Die Einschränkungen, die das Coronavirus mit sich bringt, sind mir aufgrund meiner Herzkrankheit bereits länger vertraut. Ärmlicher wurde mein Leben dadurch aber nicht - eher im Gegenteil. Ein Bericht.


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"Die Freiheit des Menschen hängt nicht vom Radius seiner Mobilität ab . . ."
© Getty Images / Margarita Almpanezou

Die Welt vor dem Coronavirus scheint heute unendlich weit weg. Die freie Welt, die leichtlebige Welt. Hingehen, wohin man will, tun, worauf man Lust hat - vorbei. Nach wenigen Wochen, so scheint es, ist die Welt ein von gefährlichen Mikroben bevölkerter Schauplatz geworden. Der öffentliche Raum? Das Virus lauert überall. Die Menschen, deren buntes Treiben man vor kurzem in der Stadt an belebten Plätzen noch genoss? Gefährlich, jeder könnte den Erreger weitergeben. Haltegriffe in der U-Bahn, Druckknöpfe? Besser nicht angreifen. Sport, Fitness-Center, Freunde treffen, ausgehen, Urlaub gar? Maximal auf Balkonien.

Wir sind unversehens in einer Zeit enger, allzu enger Grenzen gelandet. Die eigene Wohnung ist kein Lebensraum für Monate, da macht sich Lagerkoller breit. Das Gefühl der Begrenzung, das Gefühl, dass sich das Möglichkeitsspektrum verengt, dass man Dinge, die man geliebt hat, nicht mehr machen kann, dass sich Träume in Luft auflösen - es ist mir nicht neu. Ich kenne es. Seit dem Jahr 2006.

Habe ich damals meine Diagnose überhaupt mitbekommen? Vermutlich nicht. Vermutlich habe ich sie weggeschoben. Sie hätte mir aber ohnedies nichts gesagt: Rechtsventrikuläre Dysplasie mit Linksherzbeteiligung. Oder auch: Rechtsventrikuläre Kardiomyopathie. Irgendetwas Seltenes. Angeboren. Zumindest für Kardiologen wurde ich damit, wie ich bald merken sollte, zum interessanten Studienobjekt.

Hiobsbotschaft und Hammerschlag

Die rechte Herzkammer vergrößert sich immer weiter, wandelt sich zu Fett um. Alles, was sie "aussendet", sind Rhythmusstörungen. So in der Art, genau weiß ich es bis heute nicht. Und wenn ich es weiß, vergesse ich es. Medizin hat mich nie interessiert, Blut kann ich bis heute keines sehen, und Krankengeschichten haben mich immer nur gelangweilt. Ich schob die Diagnose weg, hörte halb nicht hin. Ich wusste nur: Es ist das Herz. Es ist also das Herz, nicht, wie ich dachte, der Kopf. Es waren keine epileptischen Anfälle. Es waren Herzanfälle, und ich wäre beinahe draufgegangen.

Ich weiß auch nicht mehr, wer mich damals im Klinikum in Wels, wohin ich damals aus einem steirischen Krankenhaus transferiert worden war, als Erster darüber informierte, dass ich einmal "ein neues Herz brauchen" werde. Waren es die Eltern, denen der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand? War’s doch der Arzt? Ich glaube, beide. Bei mir angekommen ist die Botschaft jedenfalls nicht.

Ich, der ich mich damals als stolzen Skeptiker von Medizin und Pharmaindustrie sah, ignorierte die Hiobsbotschaft - so wie ich die Anfälle zwei Jahre zuvor ignorierte, so wie ich dem ersten Anfall am 20. März 2003, in der Nacht des Angriffs der Amerikaner auf den Irak, keine große Bedeutung beimaß. Obwohl der mich wie ein Hammerschlag traf. Aber ich war nicht allein. Auch die Ärzte waren ratlos, tippten auf einen epileptischen Anfall. Einmal ist keinmal. Später sollten sie mich mehrfach mit der Diagnose "Panikattacken" heimschicken.

"Da sind Ihre Medikamente!" Die Krankenschwester brachte die Tabletten, die ich von nun an zu schlucken hatte. "Wie lange?", fragte ich, etwas naiv. "Ihr Leben lang." Das saß. Erst jetzt hatte ich, der Leichtsinnige, es begriffen - wenigstens für den Moment. Ich war krank geworden, schwer krank, bekam einen Defibrillator implantiert, wurde damit, wie ich dachte, zu einer Art Cyborg, musste für den Rest meines Lebens Medikamente schlucken. Meine Träume von Freiheit und Unabhängigkeit, vom Leben im abenteuerlichen, geliebten Osten, von ausgedehnten Reisen dort - ich hatte eben in Minsk Russisch gelernt -, konnte ich mir abschminken. Stattdessen: Willkommen im Gesundheitssystem, herzlich willkommen in Wien, im Status quo! Und der war unbefriedigend genug: Arbeit im Callcenter, keine eigene Familie, unverheiratet. Und jetzt noch das. Mit 30.

Hatte ich im Krankenhaus noch gehofft, dass sich die Auswirkungen der Krankheit weitgehend aufs Tablettenschlucken beschränken würden, von der hoffentlich niemals stattfindenden Transplantation in einer fernen Zukunft einmal abgesehen, so wurde ich nach dem Spitalsaufenthalt eines Besseren belehrt.

Nur keine Beipackzettel lesen

Kurz davor hatte ich noch - unter (ignorierten) Herzanfällen und in sehr hohem Tempo - gemeinsam mit meiner Schwester einen hohen Berg bestiegen. Jetzt tat ich mir schwer, die paar Meter Richtung Kapuzinerkloster in meinem Heimatdorf Irdning im steirischen Ennstal zu bewältigen. Die Anfälle hatten Wirkung gezeigt. Ich musste immer wieder Pausen einlegen, während mich vergleichsweise sportliche über 70-Jährige überholten. Das war’s, dachte ich. Was ist das für ein Leben? Keine ausgedehnten Skitouren in der freien Natur mehr. Das geliebte Langlaufen? Das schnelle Gleiten über die hart gewordenen Schneedecken von Hinterberg in der Nähe der Kulmschanze? Nichts zu machen.

Selbst beim Skifahren fehlte mir in den Oberschenkeln die Kraft und im Herzen der Pfeffer. Ich stellte die Ski ins Eck. Radfahren? Ging noch, aber ohne Gepäck. Die ausgedehnten, ungeplanten Radtouren früherer Tage, das Fahren, wohin man wollte - vorbei. Dem Körperlichen waren von nun an enge Grenzen gezogen. Und sie wurden noch enger: 2012 folgte ein ordentlicher, aber überraschend glimpflich verlaufener Schlaganfall, 2013 schwere Herzanfälle, die mich wieder an die Grenze von Leben und Tod brachten.

Die Folgen waren einschneidend: Blutverdünnung, kein Alkohol mehr, schwere Medikamente, deren Beipackzettel mit den Nebenwirkungen man sich lieber nicht durchlesen sollte. Ausgedehnte Lokaltouren wurden ab jetzt komplett sinnlos, rechtzeitiges Zu-Bett-Gehen eine Notwendigkeit. Flugreisen? Eher nicht. Ich blieb am Boden. Dazu ein ständiges Gefühl, sich auf schwankendem Grund zu bewegen - quasi auf der Bombe zu sitzen, die auch ohne Anlass jederzeit hochgehen könnte. Jede Infektion konnte erneut Anfälle auslösen. Ich hatte sie unter allen Umständen zu vermeiden. Ich kaufte also Desinfektionsmittel, lange vor Corona, verwendete sie aber nur sporadisch. Diesen Leichtsinn hat mir erst das Virus ausgetrieben.

Dennoch: Alles hat seine Kehrseite. Lebe ich heute eigentlich schlechter als vor den Anfällen? Nein. Eher besser. Gewiss, ich hatte Glück: Die Heirat mit einer wunderbaren Frau. Die interessante Arbeit. Der Chorgesang in der russisch-orthodoxen Kirche, den ich erst 2007, nach den Anfällen, begann. Die Bücher. Ein eher zurückgezogenes Leben hat, wenn man sich darauf einzustellen vermag, auch seine Vorteile.

Neben der Angst bleibt die Liebe

"An der Grenze zwischen Leben und Tod stößt man erst auf den wahren Reichtum des Lebens."
© privat

Dies auch deshalb, weil ich erkannte, dass die Freiheit des Menschen nicht vom Radius seiner Mobilität abhängt - schon gar nicht, wenn die Einschränkungen, wie jetzt durch das Coronavirus, zeitlich begrenzt sind. Oder davon, wie viel Freiheit er vom Staat oder anderen Machtstrukturen gnädig gewährt bekommt (hier wäre eher die Möglichkeit der Freiheit von diesen Strukturen eine Messlatte). Geschweige denn von Après-Ski oder ähnlichen Vergnügungen.

Freiheit ist zuerst ein inneres, ein geistiges Gut. Aus dem sowjetischen Gulag gab es Berichte von Häftlingen, die dort, inmitten brutalster Gefangenschaft, die freiesten Gespräche ihres Lebens führten. Sie werden sich die beschränkenden Wachtürme und Zäune mit Sicherheit weggewünscht haben. Aber ihr Geist flog über den Kerker hinweg,
ignorierte ihn.

An der Grenze zwischen Leben und Tod stößt man erst auf den wahren Reichtum des Lebens, der nicht in "Tand aus Menschenhand" besteht, etwa in den sinnlosen Konflikten und Sticheleien, die sich die Menschen im Laufe des Lebens zufügen. "Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt", sagte Thomas Bernhard. Keine Gespräche sind so offen, so ehrlich wie die im Spital unter Menschen, die der Angst, sterben zu müssen, ausgesetzt waren.

In dem Moment, wo man vor dem Ende steht, das eigene (noch) Ungelebte vor Augen (auch keine schöne Sache), fallen die Dinge, die sonst die Menschen trennen - etwa Herkunft, Kultur, politische Ansichten - ab. Hier hat man den Boden erreicht, wo der Mensch einfach nur Mensch ist. Die Gespräche werden wahrhaftig, Emotionen wie Hass werden im Lichte der eigenen Hinfälligkeit lächerlich. Was bleibt, ist, neben der eigenen Verzweiflung und Angst, der Angst vor dem Tod, die Liebe - ähnlich wie bei den politischen Gefangenen früherer Zeiten, den zum Tode Verurteilten, in deren Abschiedsbriefen jene tiefe Menschlichkeit aufleuchtet, die im Alltag in der Regel verdeckt ist - verdeckt sein muss. Sonst wäre das Leben Kitsch.

Dies selbst erfahren zu haben, ist, bei aller Gefährdung durch die Krankheit, auch eine Art Reichtum. Ein Reichtum des Lebens, den man oft erst inmitten des Mangels bemerkt.

Gerhard Lechner, geboren 1976, ist Außenpolitik-Redakteur der "Wiener Zeitung".