Besuch bei einer "Unsichtbaren": Renate Stefan ist seit vielen Jahrzehnten Buch-Herstellerin - und erläutert, wie aus Geschriebenem ein anfassbarer Gegenstand wird.
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Wer sagt, Bücher seien nur gut für die Augen, das Gefühl und den Verstand, der hat einen Schnupfen. Bücher sind auch etwas für die Nase. Wer jemals eine verschweißte Verpackung aufgerissen oder eine Neuerscheinung aufgeschlagen hat, weiß das. Gute Bücher riechen nach Papier, nach Leim und nach Farbe. Und sie ziehen die Spürnasen unter den Lesern an, die immer auf der Jagd nach dem Besonderen sind.
Wie aus dem Pferd in der Sozialgeschichte erst ein günstiges Transportmittel und später ein wertvolles Sportgerät geworden ist, so mutierte das besondere Buch zum kostbaren Nachfolger von Gutenbergs Bibel für alle. Neben dem ansprechenden Inhalt gilt für eine Kaufentscheidung wieder die passende Form und damit die Frage: Wie machen die das?
Papier wird aus Holz hergestellt, das wissen wir schon. Die meisten von uns wissen auch, dass Bücher von Autorinnen und Autoren geschrieben, auf Maschinen gedruckt und von Verlagen in Buchhandlungen zum Kauf angeboten werden. Die Verbindung von Geist und Geschäft ist uns vertraut. Was aber geschieht unterwegs, wie wird aus dem Schreiben und dem Entschluss zur Veröffentlichung ein Gegenstand, den ich anfassen, heimtragen und zwischen zwei Deckeln aufschlagen kann? Dahinter stecken, wie sie sich selbst nennen, die "Unsichtbaren".
Beginn als Redakteurin
Renate Stefan lebt in einer dieser viel zu großen Altbauwohnungen mit hohen Decken und weißen Flügeltüren im Berliner Bezirk Friedenau. Zu Kaisers Zeiten wohnten dort großbürgerliche Herrschaften, später Zahnärzte, Max Frisch, Uwe Johnson und Günter Grass. Bald nach deren besten Zeiten machte sich Renate Stefan schon auf den Weg ins "Unsichtbare", heute könnte sie längst in Pension gehen. Als junge Zeitschrift-Redakteurin im altehrwürdigen Verlag de Gruyter hatte sie es in den siebziger Jahren mit gescheiten Geistern der Wissenschaften zu tun - und dabei gelernt, eine unverzichtbare Verbindung für sie zu knüpfen.
Wie am Theater für seine Stücke und seine Schauspieler kunstvoll eine Bühne gebaut werden muss, bevor das Publikum etwas hören und sehen kann, so muss zwischen das Schreiben und Lesen ein Träger aus brauchbarem Material eingezogen werden - das Buch aus Papier, Leim und Farbe.
Renate Stefan schaute im Verlag fast zehn Jahre lang denen über die Schulter, die für die Auswahl des Papiers, für die Bestimmung der Schriften und die Bearbeitung von Bildern zuständig waren. Sie besuchte den Setzer, der die Bleibuchstaben zu Wörtern und ganzen Texten zusammenfügte, sah in der Druckerei, wie das Papier in seine Form geschnitten wurde, und schaute beim Binden der Bücher zu, wenn sie zu ihrer endgültigen Gestalt geheftet oder geklebt wurden.
Sie nahm unbezahlten Urlaub für unzählige Fortbildungen. Um Reisekosten zu sparen, organisierte sie einen Arbeitskreis in Berlin, zu dem Fachleute aus aller Welt kamen und die Verlage lernwillige Mitarbeiter schickten - bis zu 70 an einem Tag.
Wenn ihr selbst etwas unklar war, machte sie ihre eigene Frage zum Thema des nächsten Seminars. Irgendwann hatten die Verleger bei de Gruyter an der Kreativität beim Lösen von Aufgaben und an ihrem persönlichen Einsatz Gefallen gefunden, und so stieg Renate Stefan zur Herstellerin auf. Das ist kein geschützter Titel und war lange kein Ausbildungsberuf. Es gab zunächst nur die allgemeine Lehre zum Verlagskaufmann, heute gibt es spezialisierte Studiengänge an Fachhochschulen und u. a. an der Universität für angewandte Kunst in Wien.
Viele Arbeitsschritte werden allerdings inzwischen digital an Computern vollzogen, und ganze Berufe sind dabei verschwunden. Auch der Hersteller ist von Rationalisierung bedroht. Können dessen Arbeiten nicht zusätzlich von anderen Mitarbeitern oder gleich von Robotern erledigt werden? Viele Verlage sehen das so. Was unterscheidet also ein Buch von einem T-Shirt aus Taiwan? Und was unterscheidet ein sorgfältig oder gar liebevoll hergestelltes Buch von einer Massenware?
Manchen sieht man ihre feine Herkunft schon im Schaufenster einer Buchhandlung an - etwa der Edition Suhrkamp mit ihren Regenbogenfarben, auch den Büchern des Diogenes Verlags mit ihren stilisierten farbigen Gemälden auf weiß glänzendem Grund, oder der Reihe Salto im Wagenbach Verlag. Sie alle haben ein verlässlich wiederkehrendes Format, sodass der Leser voller Vertrauen zugreifen kann - und das auch tut. Aber ist dem zu trauen? Bei meinem Besuch im Literatenviertel Berlin-Friedenau fragt Renate Stefan an dieser Stelle, ob ich Zeit mitgebracht habe. Qualität sei ein weites Feld, wenn auch ein spannendes, und sie hat ihren Preis.
Arbeitslöhne und Material für die reine Herstellung eines Buches kosten etwa 15 Prozent vom Netto-Verkaufspreis. Das sind fixe Kosten, die unabhängig davon anfallen, ob das Buch gut verkauft wird oder gar nicht. Also geht der Verleger hier ständig ins Risiko und steht gerne auf der Kostenbremse. Der Hersteller ist für die Kalkulation verantwortlich, für die Ermittlung und Festsetzung aller Kosten von zu bezahlenden Leistungen, die er ins Verhältnis zum geplanten Ladenpreis setzen muss. Und dann soll er sparen.
Auswahl des Papiers
Einfach lässt sich das ohne Qualitätseinbußen machen, wenn der Hersteller etwa mit dem Drucker rechtzeitig über ein gewünschtes Format des Buches und über die Maschinen spricht, mit denen der das Papier schneidet. Da Papier nach Gewicht eingekauft wird, erhöht viel Verschnitt an den Rändern unnötige Kosten. Eine Anpassung von wenigen Zentimetern kann bereits Sparwunder wirken.
Bei der Auswahl des Papiers geht es schon komplizierter zu. Je nachdem, ob ein Bildband oder ein Roman gedruckt werden soll, wird zwischen gestrichener Oberfläche, die beim Anfassen glatt und manchmal kalt wirkt wie ein Lack, und offener Oberfläche unterschieden, die das Eindringen der Druckerschwärze tief ins Papier zulässt. Auch die Auswahl der Schrift fällt zwischen Sachbuch, Fachbuch und Belletristik unterschiedlich aus. Ist die eine Schrift nüchterner und steil laufend ausgesucht, kann die andere bis in den Inhalt hinein runde, weichere Akzente setzen.
Wir Leser nehmen all das nicht im Einzelnen wahr, spüren aber die Summe solcher Entscheidungen als Qualitätsmerkmal. Unmittelbar fällt das bei der Bindung auf, dem Zusammenfügen aller Seiten und des Buchumschlags. Fast jedem von uns ist schon ein Buch, das länger im Regal stand, beim Aufschlagen in den Händen auseinandergefallen, und meistens war es gar nicht so alt, sondern nur von einer eher jüngeren Klebebindung zusammengehalten. Bei ihr wird das Papier etwas rauer angeschnitten, damit der Leim besser eindringen kann, und dann am Buchrücken zusammengeklebt. Das Taschenbuch hat dieser preiswerten Technik zum Durchbruch verholfen, und inzwischen sind die Klebstoffe so gut, dass ein Roman schon drei, vier Mal gelesen werden kann, bevor er zerbricht.
Der deutschsprachige Buchhandel kennt in diesem Zusammenhang nur eine wirkliche Katastrophe. Als ein neues Werk des berühmten Comic-Zeichners Gerhard Seyfried mit großem Werbeaufwand und preisgünstig auf den Markt kommen sollte, hatte man sich zu einem Vierfarbdruck auf gestrichenem, leicht glänzendem Papier entschlossen. Da der Leim für die Bindung in dieses versiegelte Papier nicht wie erhofft eindrang, fielen die Seiten beim ersten Blättern begieriger Leser komplett auseinander.
Aufwändiger, haltbarer und viel teurer ist die traditionelle Fadenheftung, bei der die Seiten am Buchrücken zusätzlich mit einem Garn vernäht werden. An ihr und dem eingezogenen Bändchen als Lesezeichen erkennt man inzwischen das besondere Buch. Zusammen mit dem Gestalter Franz Greno hat der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger aus diesem Anspruch heraus vor dreißig Jahren die "Andere Bibliothek" eröffnet. Nach dem Abschied von seiner legendären Zeitschriftengründung "Transatlantik" sann Enzensberger 1985 auf eine neue kulturelle Qualitätsoffensive. Edel aufgemachte Bücher sollten Klassiker, vergessene literarische Kostbarkeiten und die Texte unterschätzter Autoren an gebildete, zahlungskräftige Leser bringen. Große Auflagen, wie etwa Christoph Ransmayrs "Die letzte Welt", und mehr als 150.000 verkaufte Exemplare waren und sind eher die Ausnahme. Kult sind die "Essais" von Michel de Montaigne geworden, die 1998 in einem unhandlichen Sonderformat erschienen.
"Andere Bibliothek"
Als Augenfänger mit Anspruchsgarantie setzt auch die "Andere Bibliothek" ansonsten streng auf eine serielle, sofort erkennbare und zugleich kostbare Erscheinung - und schrammt damit ständig am wirtschaftlichen Limit entlang. Nach einer Odyssee durch verschiedene mutige Verlage mit prominenten Gestaltern und kreativen Köpfen (wie den Herausgebern Michael Naumann und Klaus Harpprecht) kam die Reihe vor drei Jahren im Aufbau Verlag zu Renate Stefan als Herstellerin.
Sie hatte 2010 gerade den Berlin-Verlag verlassen, weil Bloomsbury, die neuen britischen Eigentümer und Harry-Potter-Verleger, die Kostenschraube angezogen, gängige Maßstäbe für die Qualität von Papier, Druck und Bindung unterschritten und schließlich die Fertigung weitgehend nach England ausgelagert hatten.
Der Eigentümer des Aufbau Verlags, ein ehemaliger Lehrer und Erbe eines Familienvermögens, griff sofort zu, und statt in die fällige Rente zu gehen, startete Renate Stefan noch einmal durch. Seit 2012 wird die "Andere Bibliothek" von wechselnden Buchkünstlern ihrer Wahl gestaltet. Sie kombiniert das feine Serielle der Buchrücken, der Fadenheftung, des guten Papiers und der Lesebändchen mit der kreativen Vielfalt international renommierter Künstler, und der Verkauf hat wieder Fahrt aufgenommen. Geschichten der Gebrüder Grimm, die Ali Schindehütte illustriert hat, gehören zu den jüngsten Erfolgen.
Renate Stefans nächster Versuch, nach ihrem Abschied von der "Anderen Bibilothek" in den verdienten Ruhestand zu gehen, scheiterte vor einigen Wochen. Der Schweizer Verlag Secession mit Dependance in Berlin engagierte sie als Herstellerin seines gesamten Programms.