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Ein letztes Grab nach 33 Jahren

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Reportage: Suche nach Vermissten. | Volksgruppen arbeiten bei Identifizierung zusammen. | Nikosia. In seinem Herzen hat er sie schon vor 33 Jahren begraben. Doch nun, sagt Kudret Özersay, kann er sie auch gemäß den Traditionen und der Religion seines Volkes bestatten. Özersays Vater und drei Onkel waren unter jenen türkischen Zyprioten, die 1974 bei einem Massaker nahe der südzypriotischen Stadt Larnaka bei Kämpfen zwischen der türkischen und griechischen Armee, zwischen türkischen und griechischen Zyprioten getötet worden waren. 13 Leichname wurden nun identifiziert und mit militärischen Ehren in Nikosia bestattet.


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Ähnliche Worte wie Özersay beim Begräbnis könnten Angehörige der 15 griechischen Zyprioten finden, denen die sterblichen Überreste ihrer Väter, Söhne und Brüder übergeben wurden. Auch diese Männer galten seit 33 Jahren als vermisst. Ihre Familien werden sie in individuellen Zeremonien am Samstag und in den kommenden Tagen begraben.

Die Suche nach Vermissten auf Zypern währt seit 26 Jahren. Doch erst 1997 haben die griechisch- und die türkisch-zypriotische Seite vereinbart, ihre Informationen auszutauschen. Das Komitee für vermisste Personen, in dem auch die UNO vertreten ist, hat seine Tätigkeit erst vor drei Jahren intensiviert. Und erst jetzt liegen die ersten DNA-Analysen zur Identifizierung der Leichname vor.

Nach dem Einmarsch der türkischen Truppen auf Zypern im Juli 1974 - als Reaktion auf einen von der griechischen Militärjunta gesteuerten Putschversuch - wurde jeder dritte von den rund 700.000 Einwohnern der Insel zum Flüchtling. Griechische Zyprioten flohen in den Süden, türkische Zyprioten in den Norden. Die Insel wurde geteilt, die Toten wurden begraben. Doch viele Menschen waren verschwunden.

Massengrab bei Nikosia

Laut Angaben der Vereinten Nationen (UNO) - die eine Friedensmission auf Zypern leiten - wurden 1468 griechische und 502 türkische Zyprioten als vermisst gemeldet. Die suchen die beiden Volksgruppen nun endlich gemeinsam.

Wie bei der Ausgrabung 40 Kilometer südlich von Nikosia. Bei einem verlassenen Dorf wird ein Massengrab vermutet. Zwei junge Archäologinnen - eine griechische und eine türkische Zypriotin - beaufsichtigen einen Baggerfahrer. "Stopp", schreit auf einmal eine von ihnen. Sie springt in den ausgehobenen Graben, nimmt ein Häufchen Erde in die Hand. "Hier war etwas", sagt sie. Die Zusammensetzung des Bodens ist anders; es könnte bedeuten, dass ein Loch gegraben und wieder zugeschüttet wurde. Nun fängt das vorsichtige Graben mit der Hand, mit einer kleinen Schaufel, einem Pinsel an. Jeden Moment könnte ein Knochen gefunden werden.

Klar sei für die Arbeit viel Geduld nötig, erzählt die Archäologin. Aber die Mühe sei es wert. Woher sie weiß, wo sie etwas finden kann? "Der Boden spricht zu uns", erklärt sie. Ihren Namen möchte die junge Frau nicht nennen. Es gibt noch immer viel Misstrauen auf Zypern, gegenseitige Schuldzuweisungen - und die Unklarheit, wer wen wann getötet hat.

"Die Frage der Verantwortung und des Tathergangs wird nicht geklärt", erzählt Xenophon Kallis vom Komitee für vermisste Personen. Es sei schwer, Informationen zu bekommen. Denn mit den Menschen sollten auch die Spuren der Gräueltaten verschwinden.

So wenden sich die Mitarbeiter des Komitees an die Familien der Vermissten. Sie sammeln Daten über das Alter, die Größe, die Kleidung des Opfers, mögliche Verletzungen, den letzten bekannten Aufenthaltsort. Sie nehmen DNA-Proben aus dem Mund eines Verwandten.

Der erste Schritt zur Identifizierung nach einer Exhumierung ist die anthropologische Analyse. Auch in dem Labor, das sich in der von der UNO kontrollierten Pufferzone befindet, arbeiten türkische und griechische Zypriotinnen, zusammen mit Kollegen aus Irland oder Argentinien. Dorthin werden die Knochen gebracht.

Auf einem Metalltisch, neben einem Skelett, liegen ein Hemd, Schuhe, Knöpfe, eine Brille in einem Plastiksäckchen. In einem Nebenraum lagern, säuberlich beschriftet, mehrere Kisten mit menschlichen Knochen. "Es sind 200 Elemente", erläutert der irische Anthropologe Oran Finegan. "Von den Archäologen wissen wir, dass sich zumindest 22 Menschen in dem Grab befunden haben müssen." Sie wurden alle gemeinsam in der Erde verscharrt.

DNA-Analyse zuletzt

Die Gebeine müssen gewaschen, geordnet und zusammengesetzt werden. Schon anhand der Größe des Opfers oder etwa der Reste von Kleidung kann der Personenkreis eingeschränkt werden. Erst danach wird die DNA, abgeschabt von einem Stückchen Knochen, in ein weiteres Labor geschickt. Der Computer muss dann die Probe nicht mehr mit allen Datensätzen sondern nur mit einer Gruppe vergleichen. Dennoch dauert die Analyse unterschiedlich lang. "So schnell wie in der Fernsehserie C.S.I. geht es nicht", meint Finegan.

20 Archäologen und 14 Wissenschafter in den Labors beschäftigt das Komitee für vermisste Personen. Für heuer hat es ein Budget in Höhe von 2,1 Millionen Euro. Im Vorjahr hat das Team der Anthropologen die sterblichen Überreste von 160 Menschen untersucht. 28 Personen sind nun identifiziert.

"Die Familien sollen die Gewissheit haben, ob ihre Verwandten tot sind oder nicht", sagt eine griechisch-zypriotische Anthropologin. Denn manche hätten die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben, ihre Lieben lebten noch, wo auch immer. Dabei sei es wichtig, dass die Menschen abschließen können. Dass sie ihre Toten begraben und um sie trauern können.