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"Ein Leuchten -wie aus einer anderen Welt"

Von Philippe Coumarianos

Politik

Den 26. April 1986 wird Boris Stoljarschuk niemals vergessen: "Als die Wände wackelten und selbst der Beton anfing zu krachen, wusste ich, dass etwas Fürchterliches passiert war". Immer wieder spielt sich die Explosion von Reaktor Nummer vier im AKW von Tschernobyl im Kopf des ehemaligen Atom-Ingenieurs ab.


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Er erlebte den ersten GAU in der Geschichte der zivilen Atomkraft hautnah mit - und überlebte wie durch ein Wunder. Auch nach der Abschaltung des letzten Reaktorblocks am Freitag bleiben für Stoljarschuk und die anderen Opfer die schrecklichen Erinnerungen an die größte Atomkatastrophe der Geschichte lebendig. Die Ursachen sind bis heute noch immer nicht geklärt.

Bis 01.23 Uhr war Stoljarschuks Dienst eine Nachtschicht wie jede andere. Da erschütterten zwei Explosionen Reaktorblock Nummer vier, in dem er arbeitete. Was sich unmittelbar danach im Kontrollraum abspielte, kann der Atom-Ingenieur nur als blankes Chaos bezeichnen. Eine dichte Wolke von radioaktivem Staub nahm den Technikern in der Anlage die Sicht. "System abkühlen! Öffnet alle Wasserschleusen!" habe sein Vize-Chefingenieur geschrien, doch alle Anweisungen waren zwecklos. "Sämtliche Anzeigen blinkten wie verrückt", erinnert sich der Atomexperte. "Nichts ging mehr, obwohl wir sämtliche Knöpfe drückten." Alle Zeiger zur Kontrolle der radioaktiven Strahlung schlugen voll aus. Draußen sah Stoljarschuk das ganze Ausmaß der Katastrophe: "Der Reaktor war nur noch ein riesiges, gähnendes Loch."

Warten auf das Ende

Auf einen Befehl, die Atomanlage nach der Explosion sofort zu verlassen, warteten die 500 Beschäftigten in jener Nacht vergeblich. Drei Stunden lang verharrten Stoljarschuk und sein Chef im Kontrollraum, obwohl es "eigentlich nichts mehr zu tun gab". Von der tödlichen Strahlung wurden die beiden Ingenieure regelrecht gegrillt. Ihre Haut wurde krebsrot, und bis heute wird Stoljarschuk die Strahlenkrankheit nicht los. Erbrechen und Kopfschmerzen sind seine ständigen Begleiter. Im Gegensatz zu seinem Kollegen überlebte er die Katastrophe jedoch wie durch ein Wunder.

Ein seltsames Leuchten lag nach dem Unglück über dem Unglücksreaktor. "Wie aus einer anderen Welt", beschrieben Augenzeugen das Flimmern der Strahlung über den Resten von Reaktor vier. Nebenan brannte das Dach der Anlage, erinnert sich Leonid Schawej. Zusammen mit 30 Kollegen focht der Feuerwehrmann einen verzweifelten Kampf gegen die Flammen, um den Übergriff des Feuers auf die übrigen Reaktoren zu verhindern. Sechs der Feuerwehrleute starben in den darauffolgenden Tagen an Strahlenüberdosis.

Beim atomaren Supergau wurde 500 Mal so viel Radioaktivität frei wie bei der Atombombenexplosion von Hiroshima. Eine riesige radioaktive Wolke verseuchte in den folgenden Wochen einen Großteil Europas. Seitdem drängte der Westen auf eine endgültige Abschaltung von Tschernobyl. Fast 15 Jahre danach war es erst soweit. Der Ukraine wurde das Aus für Reaktor Nummer drei mit mehreren Milliarden Schilling für den Bau zweier neuer AKWs.

Suche nach den Schuldigen

Die Ursachen für die Tschernobyl-Katastrophe sind auch knapp 15 Jahre danach noch nicht völlig geklärt. Verschweigen und Verharmlosen waren das Krisenmanagement der damaligen sowjetischen Führung, ungeachtet der verheerenden Folgen für Millionen Menschen und im krassen Widerspruch zur Politik der "Glasnost" (Offenheit) des damaligen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow.

Die Menschen, die weniger als 20 Kilometer von dem Unglücksreaktor entfernt lebten, wurden erst zehn Tage nach dem GAU evakuiert. Tausende erkranken infolge der Verstrahlung an Schilddrüsenkrebs. Als Schuldige für den GAU machte Moskau die Kraftwerksleitung aus. 1987 wurden sechs Tschernobyl-Manager zu bis zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.