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Ein literarischer Spiegel Wiens

Von Alexander Peer

Reflexionen

Leo Perutz jagt in "Zwischen neun und neun" seinen Protagonisten durch die Stadt - eine Spurensuche an den Handlungsorten.


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Stanislaus Demba kann froh sein, dass er heute nicht im Café Schottenring Zuflucht suchen muss. Diese tragikomische Figur aus dem Roman "Zwischen neun und neun" von Leo Perutz würde dieses Café vergeblich suchen. 2012 wurde die Sanierung des Gebäudes in Angriff genommen, heute ist das Erdgeschoß neu vermietet. Es warten lässige Sofas auf sitzfreudige Designfans: Die skandinavische Manufaktur Bolia.com hat am Schottenring 19 die schweren Lüster und die leicht knarzigen Stühle des seinerzeitigen Cafés abgelöst. Die melancholische Lichtstimmung ist trendigen Leuchtkörpern gewichen.

94 Seiten lang wundern sich Leserinnen und Leser über das seltsame Verhalten des Studenten Stanislaus Demba. Mit erstaunlicher Ausdauer hantelt er sich von Missgeschick zu Missgeschick. Bis sich das Geheimnis lüftet.

Stadt als Akteurin

Anlässlich des heurigen Leo-Perutz-Gedenkjahres, in dem sich dessen Geburtstag am 2. November zum 140. Mal und dessen Tod am 25. August zum 65. Mal jährt, lohnt ein Blick in diesen ersten Wiener Großstadtroman des romantischen Realisten. Perutz selbst beurteilte einen runden Geburtstag als Anlass für Feiern übrigens hämisch. Josef Kalmer wollte anlässlich von Perutz’ 75er einen Essay über ihn schreiben, woraufhin ihm der aus Prag stammende Romancier entgegnete: "Ich habe wenig Verständnis für die Erhabenheit durch 5 teilbarer Ziffern des dekadischen Zahlensystems."

Wesentlich mehr Verständnis zeigte der zu bissigen Kommentaren neigende Tabakgenießer und Liebhaber von Cafés für das Austüfteln raffinierter Erzählkonstruktionen. Als literarische Stadterkundung lässt sich etwa "Zwischen neun und neun" (1918) lesen. Der Roman ist eine Hommage an Wien und vor allem an den 9. Bezirk. In der Porzellangasse 37 hat Perutz mit seiner Familie - erst mit Ida Weil, mit der er die Kinder Michaela, Lore und Felix hatte, später, nach Idas Tod 1928, mit Gretl Humburger - insgesamt 17 Jahre verbracht, bevor er 1938 vor den Nationalsozialisten über Venedig nach Palästina fliehen musste. Am 5. Juli 1957 hat er am geliebten Wolfgangsee seinen letzten Roman, den "Judas des Leonardo" abgeschlossen. Wenige Wochen später, am 25. August 1957, ist er in Bad Ischl gestorben. Dort ist er auch begraben.

Das heute nicht mehr existente Café Schottenring gegenüber der Börse.
© Alexander Peer
Am Schottenring 19 befindet sich nun eine Filiale einer skandinavischen Design-Manufaktur.
© Alexander Peer

Ein Text, der derart präzise Orte vermittelt wie "Zwischen neun und neun", lädt dazu ein, den Vergleich anzustellen: Wo stimmt die literarische Fiktion passgenau mit der Wirklichkeit überein, welche Plätze haben sich wie gewandelt und welche Rolle spielt die Stadt in dramaturgischer Hinsicht?

Erst in der Mitte des Buchs offenbart sich, warum Demba überhaupt so getrieben durch den Neunten eilt und weshalb die Zuflucht in das Café nötig ist: Seine Hände stecken in Handschellen. Er verbirgt sie zwar geschickt unter seinem Mantel, ist aber buchstäblich handlungsarm. Diese plakative Metapher unterstützt eine freudianische Lesart der alten Kaiserstadt. Schließlich hetzt Demba bloß wenige Meter an der Praxis des Parade-Analytikers in der Berggasse vorbei. Hätte er sie betreten, wäre ihm viel Ungemach erspart geblieben. Zwar stellt sich der Plot des Romans verhältnismäßig einfach dar, doch das Abgründe öffnende Ende und der immer für einen masochistischen Einfall talentierte sowie latent cholerische Demba entschädigen dafür mehr als genug.

Gehetzt und hungrig

Kehren wir also zu diesem Stanislaus Demba zurück, der im Café Hibernia sitzt, das sich vis-à-vis der Alten Börse befindet und als ehemaliges Café Schottenring erkennen lässt. Dorthin treibt Demba sein Hunger. Er bittet den Kellner um eine enorme Menge an Büchern, nicht um - wie seine Umgebung mutmaßt - einen Artikel zu schreiben, sondern um, dahinter versteckt, endlich seine Hände aus dem Mantel hervorzuholen und gierig die Portion Salami, zwei Eier im Glas und drei Brote zu essen.

Das Malheur beginnt schon im ersten Kapitel. Bei der Greißlerin Johanna Püchl bestellt Demba erst hektisch ein Butterbrot. Dann verfällt er in eine absonderliche Ruhe und fängt an, sich für alles Mögliche zu interessieren. Ausgenommen dafür, das Butterbrot zu nehmen und zu bezahlen.

Die Greißlerei in der Wiesengasse im 9. Bezirk ist nur noch schwer zu imaginieren. Ein einziges vor 1900 errichtetes Gebäude ist auffindbar. Ist die Greißlerei vielleicht einem um das Eck liegenden Supermarkt gewichen? Dass Perutz an diese Wiesengasse gedacht haben wird, erhärtet sich durch die danebenliegende Simon-Denk-Gasse, die im Roman zur Karl-Denk-Gasse wurde. In dieser Gasse gähnt einem heute ein leeres Erdgeschoßlokal entgegen. Jahrelang war hier eine Städtische Bücherei einquartiert.

Wiesengasse 28, 1090 Wien: Kaufte hier Stanislaus Demba ein Butterbrot bei der Greißlerin Johanna Püchl?
© Alexander Peer

Deckungsgleich wird die Verortung ab dem zweiten Kapitel, das im Liechtensteinpark spielt. Hier verhindern Professor Ritter von Truxa sowie Hofrat Klementi, dass Demba seine Extrawurst und sein Brot verspeisen kann. Perutz beschreibt die Szene mit detailreicher Beobachtung, pointiert und grotesk überzeichnet. Die beiden Männer sind ins Gespräch vertieft. Hofrat Klementi ist Direktor der Altorientalischen Spezialsammlung des Kunsthistorischen Museums und mit einem "von der Akademie der Wissenschaften subventionierten Werk über die ‚Bildung altassyrischer Eigennamen‘" in den Vordergrund getreten. Die beiden unterhalten sich über den Gebrauch von Rauschmitteln und versichern sich wechselseitig der Belesenheit, indem sie ihre exquisite Quellenkunde demonstrieren. Sie setzen sich zu Demba auf eine Parkbank.

Im Blick der anderen

Cyrus, der Hund des Hofrats, kann hingegen dem Thema der betagten Herren nichts abgewinnen und wendet sich Dembas Extrawurst zu. "Es ist nicht bekannt, in welcher Sprache Hofrat Klementi sich für gewöhnlich mit seinem Hund verständigte. Vielleicht hatte Cyrus in langjährigem Zusammensein mit seinem Herrn einige Kenntnisse des Aramäischen oder des Vulgärarabischen erworben. Deutsch schien er auf keinen Fall zu verstehen. Er wiederholte seinen Angriff auf die Wurst (...)." Dembas Wut mündet im Fußtritt, den er dem Wurstdieb Cyrus verpasst. Sein zwiespältiges Verhalten lässt die Professoren mutmaßen, dass es sich bei Demba um einen Haschischsüchtigen handelt.

Während meiner Recherche im Juni 2022 beobachte ich auf einer Bank drei Frauen, die sich über dieses (Inflation) und jenes (den russischen Angriff auf die Ukraine) unterhalten. Das Gras im Park ist hoch, der Blick auf das Alserbachpalais durch die mächtigen Bäume ein wenig verhüllt. Würde man nicht auf die Kleidung achten, sähe man keinen Unterschied zu Parkbesuchern der Jahrhundertwende.

Der ganze Roman entfaltet sich durch Zuschreibungen anderer. Zentral für die Lesenden ist die Erfahrung der Hauptfigur über die Schlüsse, welche die Mitmenschen aus seinem Verhalten ziehen. Genauer muss man schon lesen, wenn man die raffinierte Kombination von auktorialer und personaler Erzählperspektive ergründen will. Es entsteht unter anderem der Eindruck des allwissenden Erzählers, der dann doch nicht in die Abgründe von Demba blicken kann, aber diese Hoffnung nährt.

Motivisch interessant ist darüber hinaus, dass Demba Fragmente von vorhergegangenen Begegnungen in neue einbaut. In der Greißlerei liest er ein Schild mit der Werbebotschaft "Chwojkas Seifensand hält rein die Hand", die er kurz danach selber verwendet. Ebenso wird aus des Hofrat Klementis Hund Cyrus später sein eigener Hund Cyrus. Dieser sei überfahren worden: Damit erklärt Demba dem Vater seiner Bekannten Steffi, warum diese weint. In Wahrheit weint sie, weil sie eben erfahren hat, dass Stanislaus Handschellen trägt und in eine verfahrene Situation geraten ist.

Stanislaus Demba macht sich schließlich zum Franz-Josefs-Kai auf, um Sonja Hartmann, seine Ex-Freundin, zurückzugewinnen. Dafür braucht er Geld. Sonja will nämlich mit ihrem neuen Freund Georg Weiner auf Urlaub fahren. Dass Demba keine Chancen mehr hat und bald offen zu erkennen gibt, gar nicht mehr an Sonja interessiert zu sein, merkt man jedoch schnell.

Jagd nach Geld

Im Café Hibernia schließlich entledigt sich Demba des nagenden Hungers. Danach geht er in Richtung Kolingasse zu seiner einzigen Vertrauten, Steffi Prokop. Nur sie weiht er in sein Schicksal ein. Weiter zieht der Getriebene mit den versteckten Händen von Station zu Station seines Passionswegs. In der Esslinggasse im 1. Bezirk sucht er Dr. Hirsch auf und hofft, einen Vorschuss für seine Nachhilfestunden zu erhalten. Vorerst scheint er von Fortuna begünstigt, um dann erst wieder mit leeren und nach wie vor gebundenen Händen dazustehen.

Danach gelingt es Demba, für verbrannte Kollegienhefte, die er für einen Studienkollegen mitstenographiert hat, eine Wiedergutmachung von 70 Kronen zu erhalten. Das in einem Kuvert verwahrte Geld bringt Demba derart in Euphorie, dass er es kurzerhand auf der Straße verliert. Den freundlichen Polizisten, der ihn darauf aufmerksam macht, weist er - innerlich bebend - von sich. Demba muss mitansehen, wie ein anderer in den Besitz seines Kuverts kommt, und folgt diesem unrechtmäßigen Glückspilz namens Skuludis zum Graben, bis er ihn in einem Kaffeehaus stellt. Schließlich kommt es zu einer Hetzjagd bis zur Mariahilfer Straße, wobei erst Demba Skuludis, dann der Grieche unserem Antihelden hinterherjagt, weil für einen kurzen Moment die Handschellen Dembas sichtbar werden.

Weitere Handlungsstätten sind die Liechtensteinstraße, wo die Wohnung des Widersachers Georg Weiner liegt, sowie ein Restaurant, in welchem Demba erst beispiellos brüskiert wird, dann die anderen zu kontrollieren glaubt, um nur erst wieder in die Flucht getrieben zu werden. Es folgt ein verstörendes Finale, das dem unzuverlässigen Erzählen ein eigenes Denkmal setzt. Man weiß plötzlich nicht mehr, ob Demba das alles erlebt oder bloß fantasiert hat.

Leo Perutz (1882-1957) gegen Ende der 1920er Jahre.
© ullstein bild

Das Faible für unzuverlässige Ich-Erzähler begleitet Perutz seit Beginn seines Schreibens. Bereits beim Debüt "Die dritte Kugel", danach in "Der Meister des jüngsten Tages" und selbst in Kurzgeschichten wie "Nur ein Druck auf den Knopf" misstrauen wir irgendwann den Ausführungen der jeweiligen Erzähler.

Perutz hat anlässlich eines Abdrucks des Romans in der Wiener "Arbeiter-Zeitung" eine Bemerkung veröffentlicht, in welcher er unter anderem wie folgt festhält: "Dieses Buch wurde im Herbst 1917 geschrieben, in einer Zeit, als die Menschheit noch keine in Ketten geschlagenen Völker kannte." Konkret bezieht er sich auf eine flüchtige Begegnung während der Kriegszeit, als er einen ungewöhnlich erregten jungen Mann beobachtet. Die Idee für die Handschellennovelle hatte er schon im Februar 1915.

Markante Einfälle zeichnen alle Perutz-Romane aus. Die Idee mit den Handschellen wurde auch plagiiert, sowohl von Eric Ambler als auch von Alfred Hitchcock ist bekannt, dass sie sich dieses Kniffs bedienten. Gebunden erscheinen unsere Hände immer, mal durch Viren, ökologische Krisen, geopolitische Katastrophen oder ganz einfach Liebeskummer. Es ist eine Metapher, die einem sofort griffig erscheint.

Die Stadt als Raum der Bedrohung, aber immer auch als Raum der Lösung ist ein signifikantes Merkmal des Großstadtromans. Beide Aspekte büßten in der Zeit der Pandemie und der damit verbundenen Lockdowns an Wirkmacht ein - die Stadt als Begegnungsraum verschwand, um ihre Gefahren genauso gebracht wie um ihre Chancen.

Geht man die Handlungsorte der Kapitel ab, kommt man locker in eineinhalb Stunden durch den Roman, das heißt durch das Wien des Romans; mehr noch erweist sich der Spaziergang als Stimulation für das Entdecken des Verschwundenen und dessen, was an seine Stelle getreten ist.

In einer anderen Stadt wäre dieser Stanislaus Demba nicht so einfach in Szene zu setzen, ist es doch ein Charakteristikum des Romans, dass das Wesen Dembas fortwährend durch andere interpretiert wird - erst ist er Dieb, dann Bettler, Haschischsüchtiger, Krüppel und schließlich ein Wahnsinniger mit einem Revolver unter dem Arm. Wo, wenn nicht in Wien, könnte man sich derart mitfühlender Deutungen seitens der Mitmenschen sicherer sein?

Verlorene Freunde

Nach Wien kam Perutz trotz des Kriegsendes 1945 selten. Was sollte er noch hier? Überall wären ihm nur Geister begegnet, die geliebten Tarockpartner Franz Elbogen oder Hugo Sperber, die nahestehenden Kollegen und Freunde wie Richard A. Bermann (Pseudonym Arnold Höllriegel), Anton Kuh oder Ernst Weiß waren alle tot, teils von den Nationalsozialisten umgebracht wie etwa Sperber, der im 1938 im KZ Dachau ermordet wurde. Wie sehr Perutz Wien geliebt hat, wie sehr es ihm in Palästina gefehlt hat, ist offensichtlich: "Eigentlich wäre mein Lebensproblem gelöst, wenn ich ein kleines Haus bauen könnte, von dessen vorderen Fenstern man die Omarmoschee sieht und von den hinteren den Kahlenberg."

Von "Zwischen neun und neun" erschienen von 1918 bis 1925 allein 13 Auflagen in deutscher Sprache, Übersetzungen folgten bis 1930 in englischer, finnischer, norwegischer, russischer, polnischer, schwedischer und ungarischer Sprache. Ernst Weiß schrieb an Perutz: "Wären Sie englischer oder amerikanischer Autor, so würde Ihr Werk in 100.000 Exemplaren von London bis zum Sudan gelesen werden."

Darüber hinaus pflegte Perutz das damals übliche Vorabdrucken von Romanen in Zeitschriften und Zeitungen, was ihm mit "Wohin rollst du, Äpfelchen ..." 1928 ein Millionenpublikum bescherte. Damit war ab 1933 Schluss. Mit der Machtergreifung der NSDAP wurde Perutz zum geächteten Autor, dessen Bücher verboten waren.

Bezeichnenderweise ist sein größter literarischer Erfolg im Exil in Tel Aviv einem Versehen zu verdanken. Das Arbeitergewerkschaftsblatt hat ohne Erlaubnis "Zwischen neun und neun" abgedruckt. Nicht nur anhaltende Debatten in der Öffentlichkeit über den Vorfall brachten Perutz unerwartete Publizität, auch die Strafzahlung des Verlags war höher, als es ein übliches Autorenhonorar gewesen wäre.

Die literarische Landschaft Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Torso, das Schicksal der beiden finalen Bücher "Nachts unter der steinernen Brücke" und posthum "Der Judas des Leonardo" steht exemplarisch für eine Autorengeneration: Ablehnungen, lange Wartezeit auf Veröffentlichung und Verlagskonkurse sowie ausbleibende Honorare waren auch dem alternden Romancier beschieden.

Doch nicht nur in seinen Büchern erweist sich der ausgebildete Versicherungsmathematiker Perutz als Prophet - man denke an die Führerfigur Malchin in "St. Petri-Schnee" -, auch in der Einschätzung des Schicksals seines Werks. In einem Brief an seinen Bruder stellte er 1949 resignierend wie selbstbewusst fest: "Die wirklich maßgebenden Faktoren, die Zeitungen, die Kritik, die Verleger und die Literaturgeschichte, registrieren mich als nicht mehr vorhanden, wenn nicht gar als nie vorhanden gewesen. Umso sicherer ist meine Auferstehung in 40 Jahren, wenn mich irgendein Literaturhistoriker wiederentdeckt und ein großes Geschrei darüber erhebt, daß meine Romane zu Unrecht vergessen sind."

Die Präzision dieser Ankündigung erstaunt. Als dieser Literaturhistoriker ist der Germanist Hans-Harald Müller zu benennen, der eben 1989 mit der Perutz-Ausstellung der Deutschen Nationalbibliothek und der damit verbundenen Publikation zu Leo Perutz erstmalig dessen Leben und Werk darzustellen versuchte. Gewiss, Müller ist nicht der Einzige: Blickt man die letzten drei Jahrzehnte zurück, entdeckt man eine Fülle an sekundärliterarischen Arbeiten zu Leo Perutz. Für seine Rückkehr ins literarische Bewusstsein war aber auch das Interesse in nicht-deutschsprachigen Ländern maßgeblich. Der Japaner Masato Murayama etwa dissertierte 1979 in Wien über "Leo Perutz. Die historischen Romane".

Heimat Kaffeehaus

Dieser Umstand überrascht wenig, wenn man bedenkt, dass durch die Exilsituation seiner Übersetzer und Bekannten sein Werk eher im nichtdeutschen Raum konserviert wurde. Beispielsweise erfreuten sich die versponnenen Romane in Lateinamerika hoher Popularität. Jorge Luis Borges nahm den "Meister des Jüngsten Tages" 1946 in seine Sammlung der besten Kriminalromane auf. So erfolgte eine Kanonisierung, die hierzulande erst später einsetzte.

Die eigentliche Heimat von Perutz blieb das Wiener Kaffeehaus, allen voran das Café Herrenhof. Denn das, was er im Großen erträumte und zweimal in dieser so dunklen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugrunde gehen sah, gelang im Kleinen Abend für Abend: Das Zusammensein verschiedener Menschen am Kaffeehaustisch, so vieler Biografien, so vieler Sprachen, so vieler Charismen - in hitziger Debatte vereint. Das Kaffeehaus erweist sich als essenzielle Begegnungszone der Stadt, geöffnet muss es halt bleiben.

Ein Zitat zu Perutz’ Bestattungswunsch bestätigt diese "Heimat": "Ein Grab im Kaffeehaus und rings um mich her der Rauch der Zigaretten, Pagat und Solo-Gromoboi, das Klappern der Dominosteine und der Duft des schwarzen Kaffees."

Literaturhinweise:

Brita Eckart / Klaus Lehmann / Hans-Harald Müller: Leo Perutz 1882-1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main. Paul Zsolnay, Wien 1989.

Brigitte Forster / Hans-Harald Müller (Hg.): Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung. Sonderzahl, Wien 2002.

Hans-Harald Müller: Leo Perutz. Biografie. Zsolnay, Wien 2007.

Alexander Peer: Herr, erbarme dich meiner! Leo Perutz. Leben & Werk. Edition Art & Science, Wien/St. Wolfgang 2007.

Alexander Peer, geboren 1971 in Salzburg, lebt als freier Autor in Wien. Zuletzt von ihm erschienen: "111 Orte im Pinzgau, die man gesehen haben muss" (2022), "Gin zu Ende, achtzehn Uhr" (2021). www.peerfact.at