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Ein Mann mit vielen Wendungen

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Der schiitische Kleriker Mokhtada al-Sadr setzt sich an die Spitze der Reformbewegung im Irak und verblüfft mit der Mobilisierung Tausender.


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Bagdad. "Wir kommen wieder!", drohen die Demonstranten, als sie sich aus dem Parlamentsgebäude in der Grünen Zone dorthin zurückziehen, von wo aus sie ihren Protestzug gegen die Regierung begannen: dem Tahrir-Platz im Herzen Bagdads. Jeden Freitag finden sich dort seit Monaten Iraker aus allen Bevölkerungsgruppen ein, um gegen die Missstände in ihrem Land zu protestieren und die Regierenden aufzufordern, endlich etwas dagegen zu tun.

Man werde nicht weichen, bevor die Forderungen erfüllt seien, steht auf den Schildern, die Demonstranten mit sich tragen. Während anfangs mehr Strom und eine bessere Wasserversorgung den Kern der Forderungen ausmachten, werden nun politische Reformen, die Umbildung der Regierung und ein effektiver Kampf gegen Korruption gefordert. Die Proteste verliefen wellenförmig, mal mehr, mal weniger Leute nahmen daran teil. Als die Welle abzuebben drohte, setzte sich der schiitische Kleriker Moktada al-Sadr an ihre Spitze. Am vergangenen Wochenende erlebte sie ihren vorläufigen Höhepunkt.

Ein gefürchteter Rebell

Drei Tage lang hatten Tausende das schwer bewachte Regierungsviertel am westlichen Tigrisufer gestürmt und sich im Parlamentsgebäude niedergelassen: "Alle Macht dem Volke!", war die Parole. Um auf die Sitze der Abgeordneten zu gelangen, rissen Demonstranten Betonstelen ein, überwanden Stacheldraht und Sicherheitsschleusen, überrannten Wachen und Bodyguards. Die als Hochsicherheitstrakt geltende Grüne Zone, die neben dem Parlament den Regierungssitz, das Verteidigungsministerium, einige ausländische Botschaften und westliche Organisationen beherbergt, war plötzlich löchrig geworden, der Schutzwall wurde durchlässig. Die Sicherheitskräfte ließen die Demonstranten gewähren und weigerten sich, auf Unbewaffnete zu schießen. Einige sollen starr vor Entsetzen gewesen sein, berichten Augenzeugen. Für Moktada al-Sadr war der Anblick eine Genugtuung. Noch nie hatte er die Fäden des politischen Geschehens im Irak so fest in der Hand.

Vor zehn Jahren war der heute 42-Jährige ein allseits gefürchteter Rebell, galt als zornig, radikal, gewalttätig und buchstäblich über Leichen gehend. Seine Anhänger zogen durch die Straßen von Bagdad, kidnappten und massakrierten Sunniten, säuberten ganze Stadtviertel und provozierten so eine Segregation in der Hauptstadt, die teilweise bis heute anhält. Der Ausbruch des drei Jahre dauernden Bürgerkriegs ging maßgeblich auf das Konto der Mahdi Armee, Moktada al-Sadrs Miliz, in der bis zu 50.000 Schiiten engagiert waren. Sie bildeten Todesschwadronen und legten jeden um, der irgendwie mit dem Regime Saddam Husseins verbunden war. Moktada übte blutige Rache für die Ermordung seines Vaters Mohammed Sadiq al-Sadr, ein hochgeachteter schiitischer Ajatollah, durch die Schergen Saddams. Aus dem Schiitenviertel Saddam-City wurde Sadr-City.

Doch auch die Amerikaner blieben nicht von al-Sadr verschont. Mehr als 6000 Sprengsätze wollen seine Milizionäre gegen die GIs gezündet haben. Als die US-Administration einen Haftbefehl gegen den "schiitischen Terroristen" ausstellte, flüchtete er in den Iran, um in Qom religiöse Studien zu betreiben, wie er offiziell aus seinem Büro verlauten ließ. Nach dem Abzug der US-Truppen aus dem Irak kehrte al-Sadr 2012 wieder in den Irak zurück und verblüffte mit dem Besuch der sunnitischen Abdul Qader Al Kilani Moschee im Zentrum von Bagdad. Das gemeinsame Gebet mit dem sunnitischen Imam sollte die Aussöhnung der beiden Glaubensrichtungen symbolisieren und wurde zur Kulmination einer Serie verblüffender Wendungen al-Sadrs. Während seine Anhänger, die inzwischen Regierungsämter bekleideten, Nuri al-Maliki als Premierminister unterstützten, stellte sich der Meister selbst auf die Seite der sunnitischen Demonstranten, die gegen Maliki opponierten und mehr Rechte und politische Partizipation im inzwischen schiitisch geprägten Irak forderten. Seiner Mahdi-Armee befahl er, die Waffen niederzulegen und kündigte an, sich aus der Politik zurückziehen zu wollen.

Doch dann kam die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Der Mann mit dem schwarzen Turban und ergrauten Bart nennt seine Mahdi-Armee nun Friedensbrigaden. "Nach dem heutigen Tag muss der Premierminister agieren", rief er am Freitag, dem 26. Februar den Menschenmassen zu, die sich um den Tahrir-Platz versammelt hatten - und meinte Maliki-Nachfolger Haider al-Abadi. Tausende kamen von überall her, um Sadr zu hören. Schon Stunden vor seinem Auftritt auf der improvisierten Bühne waren die Straßen im gesamten Stadtteil Karrada abgesperrt, Personen- und Taschenkontrollen durchgeführt und alle Sicherheitskräfte dort versammelt. "Heute stehen wir an der Pforte der Grünen Zone", verkündete er mit Blick über die Tigris-Brücke zum Regierungsviertel, "morgen werden wir drinnen sein." Jubel unter den Demonstranten: "Nein zu den Dieben dort drinnen, Ja zu Reformen!" Zwei Monate später folgten den Worten Taten und die Menge stürmte die Grüne Zone. Der Irak hat noch immer keine neue Regierung.

Wut über Korruption

In einer Zeit, in der die Volksseele vor Wut über die grassierende Korruption kocht, der Krieg gegen den Terror die letzten Ressourcen aufbraucht und der Ölpreis ins Bodenlose fällt, scheint die Zeit erneut reif für Demagogen. Mit einer ineffektiven politischen Klasse, die unfähig ist, über ihre internen Grabenkämpfe hinauszuwachsen, ringt der Irak mit Problemen wie der Bekämpfung des IS und der Einheit des Landes.

Moktada al-Sadr hat zwar den Zug der Zeit erkannt. Es steht allerdings zu befürchten, dass er ihn schamlos zu seinen Gunsten ausnutzt. "Die Dinge scheinen bei ihm nicht in besseren Händen zu sein", sagt eine Demonstrantin vom Tahrir-Platz nach den Ereignissen vom letzten Wochenende. "Kleriker statt Politiker? Ist das die Lösung? Ich habe Angst um mein Land."