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Ein Mittelstürmer im Alleingang

Von WZ-Korrespondent Markus Kauffmann

Europaarchiv

Die handelnden Personen von Brandt bis zur vierten Ehefrau bleiben blass. | Der Altkanzler pflegt das Image des Machers. | Berlin. Das Leitmotiv, das Gerhard Schröders Memoiren durchzieht, heißt: "Ein Mann will nach oben". Ursprünglich, so wird kolportiert, sollten sie den Titel "Ein ganzer Kerl" tragen. Der Absicht des Buches hätte der zugunsten von "Entscheidungen" verworfene Titel entschieden besser entsprochen.


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Der kleine Gerd wird ein Jahr vor Kriegsende im ost-westfälischen Mossenberg, einem Zweihundert-Seelen-Kaff des damaligen Freistaates Lippe, geboren - wegen der zahlreichen Histörchen auch das "lippische Schilda" genannt.

Der Vater, ein reisender Jahrmarktarbeiter, fällt mit 32 Jahren in Rumänien, Gerd ist grade mal ein halbes Jahr alt. Die Mutter heiratet später wieder, bleibt aber mit ihren fünf Kindern stets an der Armutsgrenze. Gerd entflieht der häuslichen Enge wo er kann, begeistert sich für Fußball, wird Mittelstürmer beim Turn- und Sportverein Talle und beginnt eine Lehre als Verkäufer.

Einstieg in die Politik

Sein Elternhaus sei unpolitisch, doch für alles Linke aufgeschlossen gewesen, schreibt er. Außerdem habe er schon früh bestimmte Erlebnisse als Zurücksetzung empfunden. So habe sich der Pfarrer im Konfirmandenunterricht nur um die Kinder aus besseren Kreisen gekümmert, die anderen aber dem Vikar überlassen. Der Job als Eisenwarenverkäufer langweilt den Jüngling, er beginnt sich für Politik zu interessieren und tritt neunzehnjährig in die SPD ein.

Hier - nach nicht einmal einem Zehntel des Buches - startet die steile Karriere des "Machers", doch leider endet gleichzeitig, was diese Memoiren hätte lesenswert machen können. Geräusche, Gerüche, mit wenigen Strichen skizzierte Charaktere - sie schaffen ein nachfühlbares Bild einer Kindheit in materieller und intellektueller Enge ("meine Mutter war ... ohne Bildung durch ihr Leben gegangen, das immer nur Kampf um das pure Überleben war", Seite 32).

Mit dem Eintritt Schröders in die Politik wechselt der Stil des Buches schlagartig in den papierenen Ton einer fünfhundert Seiten langen Presseerklärung, unterbrochen durch eher platte Causerien. So sind z.B. sowohl Jacques Chirac als auch dessen Frau Bernadette "ungewöhnlich" kluge und interessante Menschen (Seite 242). Oder er ärgert sich über den "Kommunikationskiller" des Bankettsaales im neuen Kanzleramt. Die handelnden Personen, von Willy Brandt bis zur jetzigen, der vierten Ehefrau, bleiben meist merkwürdig blass und unkonturiert. Schröders Sprache bekommt plötzlich Blähungen, seine Lieblingsvokabeln wie "gewiss", "ganz sicher", "überaus", "ungewöhnlich" sollen selbst-affirmativ die Ausdrucksschwäche und Anspruchslosigkeit des Textes überdecken.

Lobeshymnen für Putin

Seltsamerweise bildet hier nur Wladimir Putin eine Ausnahme, der in mehrseitigen Hymnen geradezu als lupenreiner Demokrat, orthodoxer Christ und visionärer Staatslenker abgefeiert wird (Seite 453 ff), dem Freund Gerd aber auch Kränze als privaten Gastgeber flicht.

Der steile Weg des Gerhard Schröder, der es über den zweiten Bildungsweg bis zum Rechtsanwalt schafft, vom Juso-Vorsitzenden (1978) über die Hannoversche Staatskanzlei (1990) bis zum Riesentöter und Kohl-Nachfolger (1998), ist bekannt. Wirklich Neues erfährt man auf keiner der rund fünfhundert Seiten, die in zehn Kapitel, einen Epilog und einem angehängten Timetable gegliedert sind. Geheimes, aus dem Nähkästchen Geplaudertes, Motive Aufklärendes, Intrigen Aufdeckendes, Hintergründe Erklärendes wird man vergeblich suchen.

Der Wille zum Aufstieg

Dennoch werden drei Charakterzüge des Autors sichtbar: Der unbändige Wille zum Aufstieg in einer durchaus bürgerlich gedachten Rangskala, die gleichzeitige Bewunderung und Verachtung für Vertreter dieser bürgerlichen Welt und die Selbststilisierung zum hemdsärmeligen Macher und Winner ("ein ganzer Kerl"). Dieses Aufsteiger-Image pflegt Schröder von der ersten bis zur letzten Zeile. Er sei aus kleinsten Verhältnissen gekommen, ihm sei nichts geschenkt worden, er habe "alles selber gemacht". Ein Mittelstürmer im Alleingang.

Man kann und darf dem Altkanzler nichts vorwerfen; weder, dass dieses Buch eine einzige rechthaberische Selbstbeweihräucherung ist, noch, dass es langweilig und schludrig geschrieben ist. Denn wer hat wirklich von einem Politiker etwas anderes erwartet? Natürlich ist es Schröder selbst überlassen, welche Ereignisse er für wichtig hält. Natürlich darf er seine Sicht der Dinge in aller Subjektivität darstellen. Natürlich darf er, der unter Kohl alle Reformen blockierte, sich jetzt zum "Reformkanzler" stylen.

Aber auch hier fehlt's letztlich: Die Ereignisse werden unterschiedslos in dahinplätschernder Eintönigkeit und ohne Tiefgang abgearbeitet. Die nochmalige Beschreibung der Agenda 2010 gleicht einem Arbeitspapier für einen Referenten-Beitrag. Wo er dennoch versucht, in die Tiefe zu gehen, wird's sogar peinlich. Den Balkankrieg im zerfallenden Jugoslawien auf den Wiener Kongress zurückzuführen, mag seine Berechtigung haben (Seite 134f); dann aber ohne gleichzeitigen Hinweis auf die zerstörerische Blindheit des Panslawismus oder die Mordwut des Nationalismus? Das zeigt die ganze Oberflächlichkeit dieses Buches. Geschichte als small-talk, Bildungsgeheuchel. Si tacuisses...

Werdegang und Fall

Werdegang und Fall als Bundeskanzler waren geprägt von einer inhaltlich und formal neoliberalen Strategie, die sich in der Agenda 2010 manifestierte. In Schröders Darstellung (etwa ab Seite 400) hat er als einer der Wenigen die Zeichen der Zeit erkannt. Die Partei, vor allem deren Linker Flügel, die ihn - anders als Lafontaine - nie geliebt hatte, hat ihm jedoch die Gefolgschaft verweigert oder zumindest nur zögerlich gewährt. Was in den Memoiren zur Dolchstoßlegende stilisiert wird, offenbart die eigentliche Tragik dieses zweifellos mutigen Mannes: Sein persönliches Erfolgsrezept scheitert letztlich in der Politik. Kein Berg war ihm zu hoch, aber die Ebene doch zu mühsam. Die Ursachen dieses Scheiterns aber werden nicht analysiert; Schröder verliert sich hier in den üblichen Sprüchen über Kommunikationsfehler.

"Männerfreund" Oskar

Seinen Ausfall (besser: seine Ausfälligkeit) bei der TV-Elefantenrunde am Abend der verlorenen Wahl erklärt er nachträglich mit dem Superschmäh, die Haut seiner SPD so teuer wie möglich zu Markte zu tragen. Dies ist alles verzeihlich. Aber es macht aus diesem Schnellschuss noch kein lesenswertes Buch.

Mit Lafontaine, seinem großen "Männerfreund" und Gegenspieler in der SPD, geht Gerhard, der Siegreiche, scheinbar großzügig um, macht das Messerattentat gegen "Oskar" für vieles verantwortlich und zwingt sich dabei sogar den einen oder anderen mitfühlenden Satz heraus ("Wie oft mag er im Traum davon heimgesucht worden sein", Seite 127.) Die vornehme Zurückhaltung ist aber nur scheinbar: Schröder hält Lafontaine für unwillig, Verantwortung zu übernehmen. "Keine einzige Forderung, die er jetzt formuliert, wird er je in Wirklichkeit verwandeln müssen, und er kann sich in dem Gefühl baden, immer recht zu behalten", prophezeit er dem Ex-Freund. Ein Gefühl übrigens, in welchem der Autor selbst ausgiebig badet.

Irak-Krise mit den USA

Etwa in seiner Irak-Politik. Weltpolitisch wird deutlich, dass Schröder die Nähe zu Russland suchte, während er das transatlantische Bündnis schwer belastete. Deutschland rückte unter seiner Kanzlerschaft eindeutig nach Osten. Er hat Europa - von Frankreich bis Russland - stets als Gegenkraft zur USA verstanden. Nun mag es ja sein, dass Schröders Entscheidung, Deutschland aus dem dritten Golfkrieg herauszuhalten, Argumente für sich hatte. Aber dann hätte man sich von diesem Buch neue, bisher unzugängliche oder unbekannte Erkenntnisse erwarten dürfen. Stattdessen zitiert er über sechs Seiten einen Artikel der "New York Times" vom 26. Mai 2004, in dem sich die Zeitung bei ihren Lesern dafür entschuldigt, Meldungen über den Irak Saddams zu wenig kritisch geprüft zu haben. Statt uns aufzuklären, ob der deutsche Bundeskanzler über bessere Berichte der Dienste verfügte als die britische und die US-Regierung, tut er so, als habe er schon im Vorhinein gewusst, was sich hinterher - vielleicht - als wahr oder falsch herausstellte. Die "uneingeschränkte Solidarität", deren er die USA nach dem 11. September 2001 versicherte, schränkt er nachträglich auf den Kampf gegen den Terrorismus ein.

Das Buch "Entscheidungen" zeigt einen Durchschnittsmenschen mit überdurchschnittlichem Machtinstinkt und stark ichbezogener Energie. Ideologisch, politisch und intellektuell hat er jedoch nie "the middle of the road" verlassen. Macht, Wohlstand, Anerkennung - alles hat er erreicht, doch im Grunde blieb er stets, was er war: Ein Mittelstürmer.

Gerhard Schröder

Entscheidungen. Mein

Leben in der Politik

Verlag Hoffmann und

Campe, Hamburg 2006,

544 Seiten, 25 Euro

Anspruchslos.