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Ein Mythos versandet

Von Günter Spreitzhofer

Reflexionen
Die Touristen auf Sylt lassen sich vom schleichenden Landschwund nicht stören.
© Spreitzhofer

Die nordfriesische Insel Sylt kämpft um ihre Existenz. Sie wird von zunehmendem Rückgang der Landmasse bedroht.


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Sylt ist die größte Insel Nordfrieslands, die viertgrößte Deutschlands. Fast 40 km lang und manchmal nur 300 Meter breit, locken westwärts schier endlose Sandstrände. Ostwärts, bis zum bundesdeutschen Festland, sind es rund zehn Kilometer, seit 1935 fast alles Teil des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer.

Hinüber, durchs Watt, kann man bisweilen sogar waten. Denn das Wattenmeer fällt bei Ebbe weitgehend trocken, von einigen Prielen abgesehen - und von ein paar vertieften Routen für die Adler-Fährschiffe, die an Wochenenden tausende Sonnensucher auf Sylt und seinen Nachbarinseln abliefern. Es gibt raschere Wege nach Sylt, als durch den Schlick zu stapfen, aber keine einzige Straße. So bleiben die Autozugverbindungen über den Hindenburg-Damm, die Fähre nach Remo (Dänemark) und die Privatjets für junge Möchtegerns.

Höhepunkte gibt es genug, neben der Uwe-Düne, mit 52 Metern der höchste Punkt der Nordfriesischen Inselwelt. Die meisten Besucher bleiben aber nicht mehr monatelang wie damals, als sich Westerland - der Hauptort der Insel - 1855 zum Seebad erklärte und auf die Heilwirkung des windigen Reizklimas pochte. Um 1900 kurten hier Großbürgertum und Adel zu Zehntausenden, die sich per Badekarren in die atlantische Brandung schoben und erst dort ihre Hüllen fallen ließen. Wahrscheinlich nur kurz, denn die Wassertemperatur übersteigt nur selten 17 Grad.

Sechzig Jahre später bröckelte kurz die Idylle aus reetgedeckten Friesenhäusern und wilhelminischen Bädervillen, als 15-stöckige Apartmentanlagen aus Beton Westerland allmählich ein neues, lärmendes Gesicht gaben, bald auch mit Windsurf-Worldcup und Kitesurf-Trophy, Oktoberfest und Techno-Partys und ähnlichen Belustigungen.

Ruheoase für Promis

Dabei ist es zumeist geblieben. Denn überall sonst wirkt es immer noch recht ruhig, mit Wattwandern und Strandlaufen und Strandreiten an der Ellenbogenspitze, Drachensteigen in Hörnum und Naturlehrpfaden in der Braderuper Heide. Wer Einsamkeit sucht, wird sie auch finden. Oder aber man macht sich schick für Galerien und Kabarett. Oder beides, nacheinander. Dazu vier Golfplätze, mitten drin in den blühenden Dünen der baumarmen Insel, wo sich kleine Pensionen ducken und es nirgends weit zum Meer ist. Reinhard Mey hat hier ein Häuschen. Theodor Storm und Emil Nolde liebten die Insel. Und Otto Waalkes stellt seine Bilder im alten Kurhaus aus.

"Die Reize dieser Insel sind keusch und karg und lenken den Sinn auf Grog", schrieb Thomas Mann 1927 über sein Feriendomizil in der Kampener Heide, das 1990 bereits an der Abbruchkante zur Nordsee stand und sich heute im Eigentum der Deutschen Bank befindet. Denn das Meer frisst sich landeinwärts, mit stetig wachsender Geschwindigkeit.

Die Insel Sylt existiert eigentlich erst seit 400 Jahren, auch wenn sie bereits nach 1100 so bezeichnet wurde - doch damals kam man bei Ebbe trockenen Fußes ans Festland, was sich in den folgenden Jahrhunderten verändert hat. Der schleichende Landschwund, vor allem an der Süd- und Nordspitze der langgezogenen Insel, gibt schon lange Anlass zur Sorge: Die nach Osten wandernden Dünen bedrohten bereits während der "Kleinen Eiszeit" des 18. Jahrhunderts Siedlungen und Kulturland, sodass gezielt Dünengras ("Strandhafer") angebaut wurde.

Seit 1870, mit Aufkommen der ersten Aufzeichnungen zur jährlichen Küstendegradation, ist der Rückgang der Landmasse nicht mehr zu verleugnen: Rund 50 cm jährlich fraß sich die Nordsee bis 1951 immer weiter in die Insel, seither fast schon einen Meter jährlich, von großen Sturmfluten ganz abgesehen. 1962 drohte Sylt auseinanderzubrechen, als die Südspitze bei Hörnum vom Rest der Insel kurzzeitig völlig abgeschnitten war. Und das kann jeden Herbst wieder passieren, wenn der "Blanke Hans" - so heißt hier der Nordseesturm, der Wellen von bis zu acht Metern auftürmen kann - in Form ist.

Als erste Schutzmaßnahme dienten Buhnen, die seit über hundert Jahren - früher aus Holz, später aus Stahlbeton - rechtwinkelig ins Meer gebaut wurden, um Erosion durch Querströmungen zu verhindern, jedoch ohne messbaren Erfolg, weshalb die meisten davon heute wieder entfernt wurden. In den 1960ern folgten Tetrapoden, tonnenschwere vierfüßige Betonelemente, allerdings zu schwer für den Sylter Sand und zudem optisch wenig tourismusförderlich, sodass sie vielfach ebenfalls weitgehend abgebaut wurden.

Seit den 1970ern kommen die sogenannten "Hopperbagger" zum Einsatz, Schiffe, die aus küstenfernen Zonen Sand aufnehmen und ein Wasser-Sand-Gemisch durch spezielle Rohrleitungen an den Strand spülen, das dort durch Planierraupen verteilt wird. Ziel ist der Ersatz des erodierten Sandbestandes, um die Küstenlinie zu erhalten: Fast 40 Millionen Kubikmeter Sand in 42 Jahren wurden auf diese Weise neu aufgeschüttet und verteilt.

Kostspielige Erhaltung

Der Bedarf von rund zehn Millionen Euro jährlich wird aus bundesdeutschen und aus EU-Mitteln gedeckt, die den Lebensraum in strukturschwachen Gebieten zu erhalten helfen sollen. Sylts Lage ist wohl peripher, etliche Siedlungen an der Westseite sind durch Sandflug längst verweht und verlassen, der finanzielle Aufwand bleibt jedoch nicht unumstritten. "Hätte Sylt nicht das Image einer attraktiven Ferieninsel, gäbe es den Küstenschutz in der bestehenden Form gewiss nicht", ließ die Studie "Klimafolgen für Mensch und Küste am Beispiel der Nordseeinsel Sylt" schon 1995 keinen Zweifel an der allgemeinen Skepsis gegenüber den Baustellen auf Zeit - LKW-Ladungen von Rohren, Pumpenlärm und Strandbagger sind zudem nicht urlaubsförderlich.

Die mittelfristigen Zukunftsperspektiven klingen unerfreulich: Die globale Erwärmung wird zu intensiveren Sturmaktivitäten und damit zu weiteren Landverlusten führen. Aktuelle Messungen des Forschungszentrums für Marine Geowissenschaften der Kieler Christian-Albrechts-Universität haben ergeben, dass sich die Wellenenergie nicht mehr wie früher im Vorstrandbereich erschöpft, sondern immer weiter strandeinwärts wirkt: Die jährlichen Sedimentverluste belaufen sich auf über 1,1 Millionen Kubikmeter jährlich, Tendenz steigend. Doch das scheint nur wenige zu beunruhigen.

Auch das nationalsozialistische Intermezzo ist vergessen. Damals reiste Hermann Göring an und flugs wehten in den Vorgärten des Seebades Westerland Hakenkreuzfahnen, während Kampen eine liberal-intellektuelle Enklave blieb. Viele Villen rundum wurden "judenfrei" erklärt, nicht wenige davon bald zu Urlaubszielen der Organisation KDF (Kraft durch Freude). Im Zweiten Weltkrieg wurde Sylt zum Sperrgebiet erklärt: Über zehntausend Soldaten sollten eine Invasion der Alliierten verhindern. Die Kasernen und Wohnblöcke blieben von der Bundeswehr lange nachgenutzt, bis 2007 die letzte militärische Einrichtung geschlossen wurde. So hält sich der Charme vieler Gruppenunterkünfte und Rehab-Heime in Grenzen.

Auch wenn kaum mehr Kurgäste kommen, trotz oder wegen der täglichen Kurkonzerte in der Musikmuschel von Westerland: Zumindest wirtschaftliche Sorgen um Sylt sind derzeit unbegründet. Die Insel hat 21.000 Einwohner und 58.000 Gästebetten, 850.000 Gäste sorgen für fast sieben Millionen Übernachtungen jährlich. Nirgendwo in Deutschland ist die Dichte an Feinschmeckerlokalen höher, nicht nur wegen der Sylter Royal, die bahnbrechend für die deutsche Austernzucht wurde.

Wolkenfetzen gibt es viele unter der Sonne, doch eigentlich recht wenig Regen, dafür sorgt der Wind. Der weht fast beständig mit sechs Metern pro Sekunde, was die Surfer freut, dafür die "Strandmuschelschläfer" weniger. Im Hinterland wachsen die Dünen ostwärts, wie seit Jahrhunderten. Kein Wunder, dass hier Sonnenschirme gegen Strandkörbe auf verlorenem Posten stehen - und davon gibt es rund 12.000. "Unser Haufen Heide und Sand ändert sich dauernd", sagt Anke aus dem "Erlebniszentrum Naturgewalten" in List, Deutschlands nördlichstem Ort. "Jeder neue Sturm frisst einen Teil der Odde und lagert den Sand in Amrum wieder an." Die Odde ist die Südspitze von Sylt, Betreten verboten.

Naturschutzgebiete

Doch noch ist genug Sand für alle da, auch wenn er gelegentlich per Rohrleitung angeliefert werden muss: Man kommt mit Rad oder zu Fuß, packt Kind und Kegel und Kühltasche in kleine Bollerwägen, und begibt sich über Plankenwege durch Meere von duftenden Syltrosen zu den Weststränden. 40 Prozent der Insel stehen unter Naturschutz, vor allem in den fragilen Dünen der Heidelandschaften, wo jeder falsche Tritt die Erosion verstärkt. Endlich dort, versperren nicht selten grimmige Strandwächter jedem den Zutritt, der weder Kurkarte vorweisen noch Kurabgabe berappen will. Oder die Hüllen fallen lassen mag, wie das an den Strandabschnitten Samoa, Abessinien oder Sansibar angezeigt ist: FKK gibt es hier seit 1920, und die wilden Vollmondpartys von Gunther Sachs und Freunden, in den Dünen hinter der Buhne 16, waren legendär. Sagte zumindest er.

Die Buhne selbst ist längst abgebaut. Heute brutzelt dort Fast Food, der Jet Set ist in Kampen geblieben. Früher traf man sich im Gogärtchen oder bei Karlchen Rosenzweig, war beruflich Playboy, verarmter Adeliger oder Adabei. Wer dazugehören wollte, kam nach Kampen auf Sylt, wie einst die Verleger Rowohlt und Suhrkamp. Später folgten Karl Dall, Mike Krüger und Verona Feldbusch. Die einstige Hochburg der sozialen Enthemmung, die in Wirtschaftswunderjahren den Geruch einer nicht endenwollenden Orgie nach sich zog, ist bieder geworden.

"Vom Mythos Sylt ist nur die Nichtigkeit einer Schicht um Schicht abgeschälten Zwiebel übrig geblieben", schrieb Benno Kroll einst im "Playboy". Die Urlauber stört das wenig, solange die Hopperbagger kräftig buddeln und die Heide blüht. Bleibt zu hoffen, dass der "Blanke Hans" keine anderen Pläne hat. Zumindest er kommt sicher wieder.

Günter Spreitzhofer, geb. 1966, ist Lektor am Institut für Geographie und Regionalforschung (Uni Wien); Schwerpunkte: (Südost-)Asien, Tourismus, Urbanisierung & soziokulturelle Transforma-

tion, Umwelt & Ressourcen.