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Ein neuer Mythos im Dienste von Relativierung und Verharmlosung

Von Hannes Androsch

Februar 1934

Replik auf das Buch "Der Februaraufstand 1934" von Kurt Bauer.


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Seit einigen Tagen wird in unterschiedlichsten Medien das Buch "Der Februaraufstand 1934" des Historikers Kurt Bauer diskutiert. Vom Verlag wird es als "umfassendes Überblickswerk auf dem Stand der aktuellen Forschung" promotet, der Autor selbst nennt als seine Intention, "endlich Fakten von Mythen trennen" zu wollen.

Nun ist die wissenschaftliche Aufarbeitung des Februars 1934 und damit dieser für Österreich so einschneidenden Ereignisse nicht nur wünschenswert, sondern geboten. Ob allerdings Bauers Werk diesem Anspruch gerecht wird, muss angezweifelt werden. Denn tatsächlich scheint der Autor mehr an der Etablierung eines neuen Mythos interessiert zu sein: eines Mythos, der der Verharmlosung und Relativierung des Februars 1934 dient.

Doch der Reihe nach: Ein Buch, das sich als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ereignissen des 12. Februar 1934 ausgibt, dabei aber der Vorgeschichte nur wenige Seiten widmet, ist an sich schon fragwürdig. Denn ohne die lange Vorgeschichte, die bis in die frühen 1920er Jahre zurückreicht und die Ursache für die zunehmende Radikalisierung bildete, aber auch ohne die Darstellung des internationalen Umfeldes - Stichwort: die massive Einflussnahme Benito Mussolinis auf Engelbert Dollfuß und die Machtübernahme Adolf Hitlers in Deutschland - ist der Bürgerkrieg von 1934 nicht zu verstehen.

Überhaupt ist Kurt Bauer sehr selektiv bei der Auswahl seiner Fakten. Er betont zwar mehrmals, dass von Seite der Sozialdemokraten - namentlich genannt werden Otto Bauer, Käthe Leichter und Richard Bernaschek - die "Diktatur des Proletariats" angestrebt worden sei, übergeht aber völlig den 1926 im "Linzer Parteiprogramm" der SDAP festgelegten Grundsatz, wonach "die sozialdemokratische Arbeiterpartei die Staatsmacht in den Formen der Demokratie und unter allen Bürgschaften der Demokratie ausüben" wollte.

"Defensive Gewalt" zum Wohle der Demokratie

Nur im Falle, dass sich die "Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen". Diese Strategie der "defensiven Gewalt" sollte sich keinesfalls gegen die Demokratie richten, sondern vielmehr ihrer Wiedererrichtung dienen.

Auch bei der Interpretation seiner vorgelegten Fakten ist der Autor nicht wirklich konsistent. Denn die Tatsache, dass der Parteivorstand der Sozialdemokraten die Regierung mehrmals warnte, bei Fortdauer der Provokationen keine Garantie dafür übernehmen zu können, dass nicht irgendein Konflikt die "erbitterten Arbeitermassen" in Bewegung setzen könnte, klingt wahrlich nicht so, als hätte die SDAP den Weg in die "Diktatur" gesucht.

De facto war die damals auch unter den Sozialdemokraten nicht unumstrittene Formel von der "Diktatur des Proletariats" weniger gegen den Staat gerichtet als vielmehr der Versuch, den linken Parteiflügel weiterhin zu integrieren und damit einer Radikalisierung entgegenzuwirken. Dass dieser Verbalradikalismus wenig sinnvoll, ja sogar kontraproduktiv war, ist heute unbestritten und lässt sich nur aus der damaligen Situation heraus erklären.

Doch einzig abgesehen von der Ablehnung des Angebots Ignaz Seipels zum Eintritt in eine Konzentrationsregierung im Jahr 1931, ohne zuvor auf seine Ernsthaftigkeit ausgelotet worden zu sein, zeigte sich die SDAP über die längste Zeit der Ersten Republik bis zu ihrem Verbot 1934 sehr kooperativ: Obwohl in Opposition - man könnte es fast "k.u.k. Hof-Opposition" nennen - trug sie alle Maßnahmen der christlich-sozialen Regierungen mit, von der Völkerbund-Anleihe 1922 (durch Zustimmung zu einer Verfassungsänderung, wodurch eine einfache Mehrheit ausreichte für die Annahme der Anleihe) bis zur Verfassungsänderung 1929.

Ab wie vielen Toten wird ein Aufstand zum Bürgerkrieg?

Wer die Demokratie hingegen tatsächlich abschaffen wollte, waren die mit den bürgerlichen Parteien bis 1936 verbündeten Heimwehren - nachzulesen in dem von ihnen am 18. Mai 1930 geleisteten "Korneuburger Eid". Darin heißt es unter anderem: "Wir verwerfen den westlichen demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat!" Und wer sie dann wirklich abgeschafft hat, war die Dollfuß-Regierung - mittels Staatsstreich und Verfassungsbruch im März 1933.

Damit war der Weg frei in den autoritären Ständestaat faschistischer Prägung mit Anhaltelagern wie jenem in Wöllersdorf, also eine Diktatur. Den Sozialdemokraten blieben in dieser Situation und nach Verbot des Schutzbundes sowie einer Reihe repressiver Maßnahmen gegen führende Sozialdemokraten nur noch wenige Möglichkeiten zwischen totaler Selbstaufgabe einerseits und Kampf - in welcher Form auch immer - gegen den Austrofaschismus andererseits.

Unglücklicherweise lief Bernaschek mit seinem wehrhaften Widerstand gegen den Überfall der Heimwehr auf das Linzer Arbeiterheim "Hotel Schiff" dem Dollfuß-Regime ins offene Messer. Die längst geplante Ausschaltung der Sozialdemokraten wurde nun im Zuge der Februarkämpfe vollzogen. Ob es sich dabei "nur" um einen Aufstand, wie Kurt Bauer argumentiert, handelte oder um einen Bürgerkrieg, ist in der Sache selbst nicht wirklich von Bedeutung. Nicht nachvollziehbar ist jedoch Bauers Argument, wonach die Kämpfe zu kleinräumig und zu kurz gewesen seien, um als Bürgerkrieg gelten zu können, und mehr unbeteiligte Zivilisten als Kombattanten Opfer der Kämpfe wurden.

Abgesehen von der Unmöglichkeit, eine eindeutige Grenze zu ziehen, ab welcher räumlichen Ausdehnung und ab welcher zeitlichen Dauer aus einem Aufstand ein Bürgerkrieg wird, ist vor allem auch die letzte Aussage mehr als merkwürdig. Denn egal, ob nun im Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert oder in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts: Immer war es die Zivilbevölkerung, die einen großen Teil, in manchen Gebieten beziehungsweise Ländern sogar die Mehrheit der Opfer stellte. So kann auch die Tatsache, dass bei den Kämpfen zur Befreiung Wiens im Frühjahr 1945 mehr Zivilisten (vor allem durch Luftangriffe) als Soldaten ums Leben kamen, nicht bedeuten, dass in Wien kein Krieg geherrscht hätte.

Was bleibt von der behaupteten Entmythologisierung?

Der Historiker Bauer stützt sich offensichtlich schwergewichtig auf Polizeiberichte aus den Februartagen 1934. Dass diese höchst einseitig waren, ist evident, weshalb sie auch nicht zu einer Objektivierung der Tatsachen oder zur Entmythologisierung beitragen; ganz im Gegenteil: Es entsteht ein neuer, ärgerlicher Mythos der Bagatellisierung und Verharmlosung. Ein solcher Mythos allerdings muss, nicht zuletzt aus der Erfahrung der eigenen Familie, ganz entschieden zurückgewiesen werden.

So etwa wurde Rudolf Sailer, mein Großvater mütterlicherseits und seines Zeichens Mechaniker bei der Straßenbahn in der Remise Wagramer Straße, unmittelbar nach Beginn der Kämpfe am 12. Februar verhaftet und, obwohl unbewaffnet, eingesperrt.

Meine Eltern wiederum bewohnten seit 1933 eine Gemeindewohnung in der Freytaggasse in Wien-Floridsdorf, nahe dem Wasserpark. Diese Wohnung, in die ich einige Jahre später, im April 1938, hineingeboren wurde, hatte den Ausblick auf die Brigittenauer Seite der Donau. Genau von dort aus wurde sie am 12. Februar 1934 durch Artillerieschüsse des Bundesheers, welches den Befehl dazu von Dollfuß erhalten hatte, schwer beschädigt.

Hier wird auch deutlich, mit welcher Macht die Staatsgewalt tatsächlich vorgegangen ist. Das Bundesheer, das eigentlich zur Verteidigung gegen Außenfeinde vorgesehen ist, wurde hier gegen die Bürger des eigenen Landes und dabei auch gegen Zivilisten eingesetzt - in Floridsdorf genauso wie am Schlingermarkt und am Reumannplatz, beim Goethehof und beim Karl-Marx-Hof sowie an vielen anderen Orten in Wien, Oberösterreich, der Steiermark und Tirol.

Als aber vier Jahre später, am 13. März 1938, die deutsche Wehrmacht in Österreich einmarschierte, als es also tatsächlich um die Verteidigung unseres Landes gegangen wäre, fiel kein einziger Schuss, weil, so Kanzler Kurt Schuschnigg wörtlich, "kein deutsches Blut vergossen" werden sollte. Jahre zuvor aber hatte derselbe Schuschnigg das Standrecht und die Hinrichtungen der sozialdemokratischen Februarkämpfer mit Verweis auf das notwendige abschreckende Beispiel gerechtfertigt, um sie dann später, nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, salopp als "Fauxpas" zu bezeichnen.

Bleibt als Resümee, dass die Staatsgewalt hunderte Menschen getötet und einige wie Koloman Wallisch, Georg Weissel, ja selbst den verletzten Karl Münichreiter standesrechtlich abgeurteilt und hingerichtet hat. Und so dilettantisch und aussichtslos der wehrhafte Widerstand gegen die geballte Staatsgewalt auch gewesen sein mag, so war es doch der erste Widerstand, der erste bewaffnete Kampf gegen den Faschismus und für Freiheit und Recht.