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Es sei nur natürlich, schrieb der Geopolitiker Henry Kissinger, dass man in einer "Periode, in der es gilt, angstvoll den Frieden vor der Bedrohung durch die nukleare Auslöschung zu retten", voller Nostalgie auf den letzten großen Versuch, internationalen Streit durch eine Konferenz der Diplomaten zu lösen, blickt. Sein Artikel "Der Wiener Kongress - eine Neubewertung" erschien im Jahr 1956, als der Kalte Krieg in vollem Gang war. Das Risiko einer nuklearen Auslöschung ist seither einer nicht minder gefährlichen diffusen Bedrohung durch neue (Möchtegern-)Atommächte gewichen. Die Wahrscheinlichkeit einer Atombombendetonation ist dadurch heute vielleicht sogar größer als am Höhepunkt des Kalten Krieges. Kein Wunder, dass die Wiener-Kongress-Nostalgie heute genauso aktuell ist wie 1956, als Kissinger mit seiner Promotionsschrift Aufmerksamkeit erregte.
Österreich erinnert heuer, 200 Jahre danach, auf charmante Weise an den Wiener Kongress: Rund um den Jahrestag des Endes des Wiener Kongresses am 9. Juni kommen 150 Jugendliche aus ganz Europa zu einem Kongress der europäischen Jugend zusammen. Ein feines Symbol: Nicht die alten Machteliten, sondern junge Europäer sollen in Wien zusammentreffen. Es geht nicht, wie beim Wiener Kongress vor 200 Jahren, um ein restauratives Projekt der europäischen Königshäuser zur Bewahrung der durch die Französische Revolution und Napoleon bedrohten Welt der Monarchen, sondern darum, wie man ein Europa der Bürger weiterdenken kann. Doch leider gibt niemand den Kindern das Kommando und auf eine Neuordnung der Welt durch die Erwachsenen in einem "Wiener Kongress II" zu hoffen, erfordert große Zuversicht: Konferenzen wie der Wiener Kongress tagen üblicherweise nach großen Kriegen und epochalen Verwerfungen, nicht davor.
Umso erfreulicher wäre es, wenn 2015 zumindest das Kunststück gelänge, den Blick der Welt für die brüchig gewordene Konstruktion globaler (Wirtschafts-) Diplomatie zu schärfen. Es gilt, über eine Reform der globalen Steuerungssysteme nachzudenken: Ein Sicherheitsrat ohne Länder wie Indien oder Brasilien hat heute ebenso wenig Legitimität wie ein internationaler Währungsfonds (IWF), der wie ein Laserstrahl nur auf die Interessen der Gläubiger fokussiert. Ein Wiener Reformkongress des internationalen Steuerungssystems ist überfällig und wäre ein Beitrag Österreichs, zu helfen, von der gegenwärtigen globalen Weltunordnung zu einer neuen, zeitgemäßen Weltordnung zu finden.