Selten ist die parlamentarische Demokratie so angegriffen worden wie in der Diskussion um die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages. Im Parlament vertretene Parteien haben die Kompetenz zur Ratifizierung in Frage gestellt. An Stelle einer verfassungskonformen Vorgangsweise wurde von ihnen mit lebhafter Unterstützung des Boulevards eine nur für Ausnahmefälle vorgeschriebene Volksabstimmung verlangt - in der unausgesprochenen Hoffnung, dass sich auf diese Weise ein parteipolitischer Vorteil auf Kosten der Zukunft Österreichs in Europa gewinnen ließe.
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Die Kampagne in Kleinformaten beginnt Früchte zu tragen; Leserbriefe geben davon Zeugnis, der Austritt aus der EU wird bereits unverhüllt gefordert: "Wir würden uns viele Milliarden jährlich sparen und hätten wieder das Sagen in unserem Land".
Noch wesentlich erschreckender ist die Gesamtabwertung unseres Verfassungssystems, auf das vor hundert Jahren (1907 erstmals allgemeine, freie, geheime Wahlen zum Reichsrat wenngleich nur für Männer, die Frauen folgten 1919) alle fortschrittlichen politischen Kräfte zu Recht stolz waren. Die parlamentarische Demokratie ist Grundlage der Verfassung in der Fassung von 1929. Es ist Konsens, dass ihre Beseitigung 1934 ein politisches Unglück war.
Und jetzt, in der Diskussion über die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages kommt zu Tage, dass die parlamentarische Demokratie als "Parlamentsdiktatur" verstanden wird. Dieser Ausdruck ist neu und erschreckend. Er zeigt, dass unser politisches System im Grundsatz angezweifelt wird und dass die Basis der Republik nicht mehr außer Streit steht. Der Ausdruck "Parlamentsdiktatur" ist die tiefstgehende Kritik am existierenden politischen System, den dieses seit Jahrzehnten erleben musste. Er kann gar nicht ernst genug genommen werden.
Vom Urheber des Begriffes werden keine Alternativen vorgeschlagen - im publizistischen Umfeld, in dem der Begriff erstmals aufgetaucht ist, darf man jedoch getrost eine "Volksabstimmungsdemokratie" als Alternative annehmen. Einige Jahrhunderte politischer Entwicklung in Europa werden so entsorgt, auch wenn Europa es als eine gemeinsame Aufgabe ansieht, das System der parlamentarischen Demokratie in nicht-europäischen Ländern heimisch zu machen, in denen reguläre Parlamentswahlen den Durchbruch zu einem modernen politischen System bedeuteten.
Die staatstragenden Parteien sollten dem Ausdruck "Parlamentsdiktatur" größtes Augenmerk schenken, die Gefahr, die diesem Begriff innewohnt, erkennen und ihre Kommunikation mit den Bürgern optimieren, um diesem Wort "Parlamentsdiktatur" seinen bedrohlichen Charakter zu nehmen.
Der Autor studierte Philosophie, Psychologie und Anthropologie und ist als Unternehmensberater tätig.