Besatzung, Staatsvertrag, Opfermythos: Historiker Rauchensteiner im Interview.
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Wien. Es war der 30. Oktober 1943. In Moskau unterzeichneten die Außenminister von Großbritannien, den USA und der Sowjetunion eine Erklärung darüber, unter welchen Bedingungen sie ihr Alliierten-Bündnis aufrecht erhalten konnten. Drei Absätze in dem Text, eigentlich nur ein Anhang, sind Österreich gewidmet. Darin wird das gerade nicht existente Land als erstes Opfer der Angriffspolitik Adolf Hitlers bezeichnet, aber auch darauf hingewiesen, dass es selbst einen Beitrag zur Befreiung leisten muss. Über das Dokument, das Grundlage für Besatzungszeit, Staatsvertrag und den Mythos von Österreich als erstem Opfer Nazideutschlands war, sprach der Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner mit der "Wiener Zeitung".
"Wiener Zeitung": Warum wurde die Frage Österreichs überhaupt auf die Tagesordnung der Außenministerkonferenz gesetzt?Manfried Rauchensteiner: Das war ein durchaus beabsichtigtes Timing. Die Österreich-Frage stand schon längere Zeit zur Debatte, allerdings vornehmlich innerhalb der jeweiligen Fachstäbe in den Regierungen. Die Engländer haben hier quasi Pionierarbeit geleistet. Anfang 1943 wurde das stärker thematisiert - da gab es sicher auch einen Zusammenhang mit Stalingrad, wo im Rahmen der deutschen 6. Armee sehr viele Österreicher fielen oder kriegsgefangen wurden.
Es wurden einige Alternativen zu einem eigenständigen Staat Österreich diskutiert. Welche?Es gab eine ganze Reihe an Alternativen. Die Frage war, ob Österreich im Verband eines dann vielleicht nicht mehr nationalsozialistischen Deutschen Reiches bleiben, aufgeteilt werden oder mit anderen Staaten zusammengefügt werden sollte. Aber man hat sich schon in Moskau auf die Unabhängigkeit verständigt, wenn auch nicht endgültig. Denn man wusste nicht, wie der Krieg ausgehen würde. Ein Thema war auch eine mögliche territoriale Erweiterung, wobei bei den Russen der Raum um Passau, das Berchtesgadener Land und Südtirol zur Diskussion gestanden sind - auch die Franzosen haben das nach dem Krieg sehr unterstützt, die Briten aber nur sehr bedingt und die Amerikaner überhaupt nicht.
Wie realistisch waren die Alternativen aus Ihrer Sicht?
Am "realistischsten" war, dass Österreich eine Form der Zusammenarbeit mit ost-, mittel- oder südosteuropäischen Staaten findet, woran die Briten sehr interessiert waren. Für die Russen kam das nicht in Frage, weil sich die Sowjetunion gegenüber Deutschland oder "dem Westen" absichern wollte und sich daher einen starken Gürtel vorlegte, zu dem Österreich aber nie zählte. Wir wissen erst seit einigen Jahren, dass in der Litwinow-Kommission unter Leitung des ehemaligen sowjetischen Außenministers Maxim Litwinow Österreich zwar vorkam, aber als ein kleines Neutrum. Es sollte nicht in den sowjetischen Einflussbereich gehören, aber man wollte es auch nicht ganz dem Westen überlassen.
Welche Interessen hatten die einzelnen alliierten Mächte?
Hauptsächlich die nachhaltige Schwächung Deutschlands. Es sollte alles wieder herauskommen, was irgendwann einmal ins Deutsche Reich eingefügt worden ist - vorrangig Österreich. Darüber hinausgehend hatten die Westalliierten wohl auch ihre Vorstellungen - die Briten tendierten in Richtung Staatenunion, für Churchill war irgendeine neuerliche Donaukonföderation denkbar. Die Amerikaner waren daran nicht interessiert, und die Franzosen spielten in Moskau keine Rolle, weil sie nicht eingeladen waren.
Im letzten Satz der Moskauer Deklaration wurde Österreich an seine eigene Verantwortung erinnert. Inwiefern ist die Unterscheidung zwischen der Formulierung "die Österreicher", wie die Briten es vorgeschlagen haben, und "Österreich", wie es die Russen hineinverhandelt haben, relevant? Welche Auswirkungen hat die fehlende Personalisierung auf den Opfermythos?
Für die Briten war bei der Formulierung "die Österreicher" ausschlaggebend, dass Widerstand von Personen geleistet werden muss und dass ein aktives Ankämpfen gegen den Nationalsozialismus von den Österreichern ausgehen müsste. Für die Sowjetunion war die Frage des Widerstands nicht zentral, sie hatte ein wesentlich größeres Interesse daran, ein zukünftiges Österreich in die Pflicht zu nehmen. Man vermutete, das würde in Richtung Reparationen zielen, Österreich wurde aber bei der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 aus der Gruppe reparationspflichtiger Staaten herausgenommen.
Die Deklaration sollte dazu dienen, den Widerstand in Österreich zu stärken. Ist das geglückt?
Es ist kaum nachweisbar. Es mag schon sein, dass die eine oder andere Gruppe dadurch zusätzlich motiviert wurde, aber in erster Linie ging es darum, gegen den Nationalsozialismus anzukämpfen.
Wie wurde die Deklaration aufgenommen?
Der "Völkische Beobachter" ging mit der Deklaration rüde um, die Rede war von "Gesindel" und "Verbrechern". Wesentlich interessanter ist, wie rasch und tief die Bevölkerung durch alliierte Flugblätter davon Kenntnis erhielt. Dabei ging es nicht in erster Linie darum, Widerstand zu wecken, sondern den Österreichern etwas in Aussicht zu stellen, das sie motiviert, ihre Loslösung vom Deutschen Reich zu betreiben.
Wie waren die Reaktionen?
Ab Ende 1943 sind immer stärkere Österreich-Tendenzen feststellbar. Ich würde mich scheuen, hier Prozentzahlen zu nennen, aber gegen Kriegsende war wohl der weitaus größere Teil der Österreicher für die Wiedererlangung der Unabhängigkeit.
Bei der Ausformulierung des Staatsvertrags wurde darauf bestanden, die Mitschuld-Klausel zu streichen. Wie fand die Deklaration Eingang in die politische Arbeit der frühen Zweiten Republik?
Die Alliierten leiteten ihre Besatzungsaufgaben - die Teilung und Kontrolle Österreichs - aus der Moskauer Deklaration ab. Österreich hat auch damit argumentiert, allerdings lag hier die Betonung auf der Absicht der Alliierten, das Land zu befreien und den Staat wieder zu errichten. Für die Westalliierten hatte die Mitverantwortungsklausel ab 1945/46 kein Gewicht mehr.
Können die Folgen der Deklaration als Ausrede dafür herangezogen werden, dass die Entnazifizierung eine kurze Angelegenheit war?
Es war seit 1946 ein beständiger Vorwurf, dass Österreich bei der Entnazifizierung viel zu wenig Druck gemacht hat. Diese Argumentation ruht aber auch auf einer gewissen Zielsetzung: Die Sowjets wollten damit materielle Leistungen erzielen, den USA ging es um die Unzufriedenheit der Migranten und jüdischen Organisationen. Aber in Österreich gab es 1947 eine ganze Reihe von Gesetzen zur Entnazifizierung, die ganz bewusst den Alliierten zur Genehmigung vorgelegt und von diesen auch bearbeitet wurden. Die Regelung war am Anfang strenger als in Deutschland, wurde aber zunehmend gemindert.
Zum Beispiel 1949, als "Minderbelastete" wählen durften.
Die Zulassung von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP zur Wahl 1949 geschah in der Absicht, diese relativ große Bevölkerungsgruppe - um die 500.000 Menschen - als Wähler zu gewinnen. Bundespräsident Karl Renner hat angesichts der NS-Gesetzgebung gemeint, man solle sich davor hüten, ein Scherbengericht zu beginnen und diese Menschen aus der Gesellschaft auszustoßen. Diese Worte brachten ihm damals sehr viel Sympathie ein.
Analog zur Entnazifizierung sah Österreich anfangs keine Notwendigkeit, den Opfern Wiedergutmachung zu leisten. Inwiefern hat die Deklaration eine echte Auseinandersetzung Österreichs mit seiner Mitschuld an den Verbrechen der Nationalsozialisten verhindert?
À la longue hat es wahrscheinlich etwas verhindert, weil man sich zurückgelehnt hat und mit der Opferthese gekommen ist. Es hieß, "wir sind selbst Opfer, daher ist von Österreich nichts zu erwarten und nichts zu leisten". Allerdings gab es noch vor Abschluss des Staatsvertrags ein Übereinkommen über Entschädigungen mit den jüdischen Organisationen. Es ist zu wenig geschehen, das ist gar keine Frage - und die Moskauer Deklaration war immer wieder eine bequeme Ausrede.
Auf der einen Seite hieß es, Österreich als Staat sei nicht im Krieg gewesen, daher seien die Verbrechen Sache der Deutschen, auf der anderen Seite wurden in den 1950ern Kriegerdenkmäler für die "fürs Vaterland Gefallenen" errichtet.
In den meisten Fällen wurden bestehende Denkmäler aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg erweitert. Damit fielen die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs automatisch unter den Heldenbegriff, was zunehmend Irritationen hervorgerufen hat. Die Frage, ob jemand, der für die Deutsche Wehrmacht gekämpft hat, einfach so als Held zu bezeichnen ist, wirkt bis heute nach. Derzeit arbeitet man an der Umgestaltung des Heldendenkmals im Äußeren Burgtor - und dort hat man das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Als festgestellt wurde, dass sich ein SS-Angehöriger in den Sterbebüchern findet, wurden auch die Sterbebücher des Ersten Weltkriegs entfernt.
Was macht man aber mit den "Helden" des Zweiten Weltkriegs?
Wir werden uns vom Heldenbegriff zu verabschieden haben, der ja auch schon für den Ersten Weltkrieg mitunter fragwürdig ist. Der Begriff "Held" war ja auch Ausdruck einer Hilflosigkeit: Wie benennt man jemanden, der aufgrund einer Verpflichtung, die ihm der Staat auferlegt, in den Krieg zieht und dann fällt? Ist nicht der Staat, der ihn zu dieser militärischen Handlung verpflichtet, zu fragen, wie er sich zu den Menschen stellt? Österreich-Ungarn hat im Ersten Weltkrieg ungefähr 1,2 Millionen Menschen verloren, bezogen auf das Gebiet des heutigen Österreich waren es rund 150.000. Haben wir zu ihnen noch eine Beziehung?
Die Causa Waldheim gilt als Zäsur in der Wahrnehmung Österreichs als erstes Opfer. Wie hat sich die Gedächtniskultur über die Jahre verändert?
Die Zäsur war damals, dass das politische Österreich nicht mehr so weitertun konnte wie bis dahin und dass das, was die Historiker Jahrzehnte hindurch geschrieben haben, vielleicht doch ein bisschen ernster genommen werden sollte. Die Historiker haben die Okkupationstheorie, die vor allem auf Völkerrechtler zurückzuführen war, sehr früh verworfen. Erst dadurch, dass in der politischen Sphäre etwas passiert ist, gab es plötzlich ein völlig geändertes Bewusstsein.
Wie wirkt die Opferthese in der heutigen Politik nach?Die Politik hat sich sehr stark gewandelt. Nach Waldheim kam es zu markanten Veränderungen im politischen Zugang. Gerade in den 1990ern geschah enorm viel, um Unrecht, das nicht gesühnt worden war, wiedergutzumachen. Da wurde eine Generation in die Pflicht genommen, die nur ein beschränktes Maß an Verantwortung hatte, aber dazu stand. Bei der Wiedergutmachung sind wir gut unterwegs und leisten unsere permanenten Beiträge.
Wirkt in den politischen Parteien noch etwas nach?
Ich würde es mir wünschen, dass in den politischen Parteien noch etwas nachwirkt - nicht mehr im Sinne der alten Okkupationstheorie, sondern im Sinne eines wachen Bewusstseins. Fallweise spürt man so etwas, dann wieder scheint es weniger der Fall zu sein, da wird man vielleicht ein bisschen nachhelfen müssen.
Zum Abschluss eine spekulative Frage: Wo wäre Österreich ohne die Moskauer Deklaration heute?
Ich kann ebenso spekulativ darauf antworten: Ungefähr da, wo es heute auch ist.
Zur Person
Manfried Rauchensteiner
Der Historiker (Jahrgang 1942) lehrte an den Unis Wien und Innsbruck sowie an der Diplomatischen Akademie. Von 1988 bis 1992 leitete er den militärhistorischen Dienst im Verteidigungsministerium, von 1992 bis 2005 war er Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums. Neben Militärgeschichte liegt sein Schwerpunkt auf der Zeitgeschichte.
Manfried Rauchensteiner spricht heute, Dienstag, gemeinsam mit zahlreichen anderen Experten bei einer hochkarätig besetzten internationalen Tagung an der Diplomatischen Akademie Wien. Programm und Anmeldung auf der Website