Im Schweizer Dorf Montricher wird ein außergewöhnliches Projekt der Jan-Michalski-Stiftung realisiert - die "Maison de l’Écriture". Literaturhaus und Autorenresidenz, soll diese Einrichtung den Dialog der Kulturen fördern.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Bois Désert - das bedeutet soviel wie "abgeschiedenes Wäldchen" und entspricht durchaus der realen Topographie des so bezeichneten Ortes: Bois Désert ist ein Ortsteil der Schweizer Gemeinde Montricher am Fuße des Waadtländer Jura. Von seiner leicht erhöhten Lage erschließt sich die lichte Weite des Genfersees, dessen Uferstädtchen Morges nur 15 Kilometer entfernt liegt. Im 900-Seelen-Dorf Montricher verläuft das Leben in so überschaubaren wie beschaulichen Bahnen: Kleingewerbe und Forstbetriebe, eine Bankfiliale und ein Gasthof prägen die kommunale Wirtschaft. Der Osteopath für Haustiere überrascht in dem ländlichen Milieu ein wenig, nicht aber das Vereinsleben, das neben Blasmusikkapelle und Männerchor einen Schützen- und mehrere Sportvereine umfasst. Und natürlich einen Pétanque-Club, denn man ist hier in der Suisse romande, jenem Teil der Schweiz, wo man nicht nur Französisch spricht, sondern auch diversen französischen Sitten frönt.
Montricher zöge wohl kaum das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit auf sich, wäre da nicht sein Bois Désert. Denn an diesem, ein wenig nach Zauberwäldchen klingenden Ort sollte ein Traum in Erfüllung gehen: Ein aufgelassenes Ferienlager wurde neu beseelt. Durch seine Metamorphose zur "Maison de l’Écriture" präsentiert es sich als weltoffener Ort des Schreibens. Dies war der Lebenstraum von Jan und Vera Michalski, einem leidenschaftlichen Verlegerpaar.
Literatur als Brücke
1986 hatten die beiden in Montricher den Verlag Noir sur Blanc gegründet. Durch die Übersetzung slawischer Autoren ins Französische (und die Verbreitung westlicher Autoren im Osten) wurde eine Brücke zwischen frankophonen und osteuropäischen Ländern geschlagen. Bald weitete sich der editorische Radius bis Paris und Warschau aus. Heute sind die selbst gegründeten und zugekauften Verlage unter der Dachgesellschaft Libella (mit Sitz Lausanne) zusammengefasst.
Dass die polnische Literatur im verlegerischen Spektrum einen besonderen Stellenwert einnimmt, verdankt sich der Persönlichkeit Jan Michalskis (1953- 2002). Der gebürtige Pole hatte Soziologie und Philosophie in Lublin studiert, danach Politikwissenschaft in Brügge, London und Genf. Der Beitritt Polens zur EU war Michalski ein besonderes Anliegen gewesen.
Im Jahr 1983 heiratete der Kosmopolit eine Seelenverwandte: Vera Hoffmann, Spross einer Basler Großindustriellen- und Mäzenatenfamilie. Sie ist die Urenkelin des Firmengründers von Hoffmann-La Roche. Ihre Mutter Daria Razumovsky gehörte jener berühmten Dynastie an, die auch im Wiener Kulturleben eine bedeutende Rolle spielte. Veras Vater wiederum, der Philanthrop und Ornithologe Lukas (Luc) Hoffmann, war Gründungsmitglied des WWF. In den 1950er Jahren erwarb er das Anwesen Tour du Valat in der Camargue und errichtete dort eine biologische Forschungsstation . Auch prominente Kulturschaffende besuchten den geschützten Garten Eden des Öko-Pioniers; der Kontakt mit Malern und Komponisten war Luc Hoffmann ja bereits in seine Wiege gelegt.
In diesem Mikrokosmos wuchs Vera mit ihren Geschwistern auf. Eine Jugend in paradiesischer Freiheit, zwischen Flamingos und Wildpferden. Ihre Schulpflicht absovierten die Kinder in einer von den Eltern gegründeten und offiziell anerkannten Privatschule. Vera tauschte das Rhonedelta schließlich gegen den Genfersee und schrieb sich am Institut für internationale Studien und Entwicklung (Institut de hautes études internationales et du développement, IHEID) der Universität Genf ein.
Polyglotte Weltbürgerin
An diesem Institut lernte die polyglotte Weltbürgerin ihren späteren Mann Jan Michalski kennen - und widmete sich bereits in fortgeschrittener Studienphase der gemeinsamen Verlagsarbeit.
Nach dem frühen Tod ihres Mannes im Jahr 2002 setzt Vera Michalski-Hoffmann die gemeinsame Arbeit mit großem Engagement fort. 2004 gründete sie zum Gedenken an ihren Mann die Jan-Michalski-Stiftung. Ziel der Fondation ist die Förderung von Literatur. Die Stiftung stellt Stipendien für Schriftsteller bereit und fördert verlegerische Projekte (etwa Spezialmagazine, Digitalisierung von Schriften oder Werkausgaben) wie auch literarische Veranstaltungen: Neben zahlreichen Schweizer Festivals wird beispielsweise auch das Jaipur Literature Festival unterstützt.
Seit 2009 vergibt die Stiftung zudem jährlich den Prix Jan Michalski de Littérature. Mit 50.000 Schweizer Franken dotiert, würdigt dieser Preis sowohl belletristische Werke als auch Fachliteratur. Zugelassen sind, wie es im offiziellen Reglement heißt, "Autoren aus der ganzen Welt . . ., ungeachtet der Sprache ihrer Werke."
Laureat des Jahres 2013 etwa war der iranische Autor Mahmud Doulatabadi mit seinem Roman "Der Colonel". Es ist dies die tragische Geschichte eines alten Offiziers, dessen Familie durch die iranische Revolution zerstört wird. Ein Jahr zuvor ging der Jan-Michalski-Literaturpreis an die britische Historikerin Julia Lovell für "The Opium War - Drugs, Dreams and the Making of China", eine umfangreiche Studie über den Opiumkrieg und dessen Folgen.
Mit diesen Aktivitäten ist das Spektrum der Stiftung aber noch längst nicht erschöpft, erhebt sie doch den Anspruch, den Dialog der Kulturen auf möglichst vielfältige Weise zu fördern. Zum Angebot gehören ferner Ausstellungen, Lesungen und Konferenzen wie auch eine mehrsprachige multimediale Bibliothek. Mit geplanten 80.000 Bänden soll sie den Fokus auf die Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts richten (in Originalsprachen und Übersetzungen), aber auch Werke der politischen Theorie und zeitgenössischen Kunst präsentieren. Ein weiteres zentrales Anliegen ist die Beherbergung von Schriftstellern. Diese sollten in ruhiger und inspirierender Atmosphäre, bar materieller Zwänge, ihr literarisches Schaffen entwickeln können.
Um dies alles unter einen Hut zu bringen, braucht es Raum, viel Raum. Und den hat man mit der Maison de l’Écriture in Montricher geschaffen.
Die Anlage wurde von dem Schweizer Architektenteam V. Mangeat und P. Wahlen entworfen. Vincent Mangeat beschreibt das gestalterische Prinzip wie folgt: Der Komplex sei wie eine kleine Stadt konzipiert, als ein großes Haus, "das aus lauter Häusern besteht". Und die einzelnen Bauten sind tatsächlich "unter einen Hut gebracht": Gleich einem Baldachin spannt sich eine weiße Betonpergola über die gesamte Anlage, gestützt von einem dichten Säulenwald. Den Kernbereich bilden ein Ausstellungssaal und die Bibliothek. Sie steht primär Schriftstellern und Forschern offen, und an bestimmten Tagen auch dem allgemeinen Publikum. Diese Bauteile wurden im Vorjahr eröffnet, desgleichen die alte Kapelle neben dem einstigen Ferienlager: Sie wurde zu einem High-Tech-Auditorium umgebaut.
Tempel des Schrifttums
Monsieur Mangeat neutralisiert die Profanisierung der heiligen Stätte, indem er ihre neue Funktion transzendiert: "In der Kapelle versammeln sich Menschen, um auszustellen und über Bücher zu sprechen, dort wo früher andere das Buch der Bücher studierten und die Herrlichkeit Gottes besangen." Eine Volte, die dem Literaturhaus gleichsam die Aura einer Tempelanlage, einer Weihestätte des Schrifttums verleiht.
Und die Autorenresidenzen? An ihnen wird noch gebaut. Sie werden in Form von Kuben vom Baldachin hängen, als schwebten sie über dem Boden. Mangeat dazu: "Rund herum, in der relativen Verletzlichkeit dessen, was dem Vergehen der Zeit ausgesetzt ist, Hütten, als seien sie in den Bäumen aufgehängt für die Gäste, die hier wohnen, reden und unaufhörlich schreiben." Was wie ein postmoderner Elfenturm anmutet, ist freilich anders gedacht: Den kommunikativen Gegenpol zu den Panoramaklausen der literarischen Eremiten bildet ein gemeinsamer Ess- und Aufenthaltsraum.
Für einen Zeitraum von ein bis zwölf Monaten können Autoren jede andere berufliche Tätigkeit ruhen lassen und sich ganz diesem Wechselspiel von Rückzug und Austausch hingeben, um ihre literarischen Projekte zu realisieren. Die Unterkünfte werden voraussichtlich 2015 bezugsfertig sein. Die Auswahl der writers in residence trifft der Stiftungsrat auf Basis der Bewerbungsdossiers. Unter Hinweis auf ihre philanthropische Mission lässt die Stiftung verlauten, dass jene literarischen Talente bevorzugt würden, welche "die Unterstützung brauchen".
Mäzenin Vera Michalski-Hoffmann resümiert: "Wir haben das Glück, in einem ganz besonderen Land zu wohnen, eines der Länder mit der höchsten kulturellen Dichte der Welt. Ich möchte deshalb die Stiftung in dieser Umgebung einbetten und damit einen Beitrag zu diesem grandiosen Ensemble leisten. Mein Wunsch: La Maison de l‘Écriture soll zu einem Ort der Weltoffenheit werden, wo sich Meinungen und Ideen austauschen."
Ingeborg Waldinger, geboren 1956, Romanistin und Germanistin, ist Redakteurin im "extra" der "Wiener Zeitung" und literarische Übersetzerin.