Nizza, das im vergangenen Jahr Schauplatz eines grauenhaften Attentats war, ist eine wahrhaft europäische Stadt, die sich nun um die Anerkennung als UNESCO-Weltkulturerbe bemüht.
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Zuweilen entsteht der Eindruck, als hätten die mörderischsten Narren im politischen Geschehen unserer Zeit paradoxerweise ein besonders sicheres Auge dafür, wo Europa als kontinuierlich gewordene Identität am empfindlichsten zu treffen ist. So auch, als der Terrorist, der am 14. Juli auf Nizzas Promenade des Anglais in die feiernde Menge zur Fête nationale raste und 85 Menschen tötete. Ort und Zeit waren infam präzise gewählt - ist doch die Grafschaft um die seit Jahrhunderten sich entwickelnde Hauptstadt des Tourismus erst nach einer Volksabstimmung 1860 vom Königreich Sardinien-Piemont an Frankreich abgetreten worden. So stellt dieser völkerrechtliche Akt den Abschluss im Werden der französischen Nation dar.
Die Geschichte Nizzas und seiner einzigartigen Uferpromenade zeigt andererseits, dass es ein wahrhaft europäisches Zusammenspiel war, das zu den sich stets wandelnden Strukturen dieses faszinierenden Ganzen aus vitaler Urbanität und mondänem Tourismus führte.
In einer sorgfältig aufgebauten, hervorragend dokumentierten Initiative betreiben die städtischen Institutionen seit einigen Jahren die überfällige Aufnahme der Promenade des Anglais in die UNESCO-Liste des geschützten Weltkulturerbes. Die dazu gegründete "Mission" wird von prominenten Kulturpolitikern geleitet; wie Jean-Jacques Aillagon, ehemals französischer Kulturminister, und François Laquièze, der in Wien als langjähriger und erfolgreicher Leiter des französischen Kulturinstituts bekannt ist.
Kultur und Landschaft
Dabei beruft man sich vor allem auf drei der sechs Kriterien, die für die Unterschutzstellung durch die UNESO gefordert werden und auf Nizza besonders zutreffen. Die zu schützenden Güter sollen
1. ein bedeutender Schnittpunkt menschlicher Werte in Bezug auf die Entwicklung von Architektur (. . .), Städtebau oder Landschaftsgestaltung sein;
2. einen besonderen Typus von architektonischen Ensembles in einem wichtigen Abschnitt der Geschichte versinnbildlichen;
3. in diesem Zusammenhang mit überlieferten Lebensformen von universeller Bedeutung verknüpft sein.
Was in diesen offiziellen Formulierungen etwas penibel und schwerfällig klingt, lässt sich in Nizza lebendig zeigen. Im vergangenen Jahr fand eine Reihe von Ausstellungen statt, die dies illustrieren sollten, der dazu erschienene, reich bebilderte Begleitband legt davon Zeugnis ab ("Promenade(S) des Anglais", Lienart éditions).
Begonnen hat diese singuläre Entwicklung, wie der Tourismus allgemein, natürlich mit den Engländern. Seit der Renaissance waren Bildungsreisen in aristokratischen Zirkeln durchaus üblich gewesen, in der Aufklärung und dem damit erwachenden Interesse an fremden Kulturen war in England "Le Grand Tour" endgültig zu einem fixen Bestandteil des adeligen Lebens geworden.
Dabei wuchs allmählich auch die Empfänglichkeit für landschaftliche Reize und klimatische Annehmlichkeiten. So entdeckten die vornehmen Travellers nach und nach die Attraktivität des mediterranen Winters, und gleichzeitig entstand in ihren Köpfen das landschaftliche Ideal der "Riviera" - bezeichnenderweise ein so nur im Englischen vorkommendes Kunstwort mit romanischen Wurzeln: ein blühender Küstenstreifen, gerahmt von lieblichen Hügeln, ja im Idealfall Berggipfeln, im Winter schneebedeckt.
All das bot die Bucht von Nizza. Noch dazu gab es hier ein sich im aufgeklärten Absolutismus der savoyardischen Dynastie entfaltendes, überschaubares Gemeinwesen, dessen oberste Behörde den klingenden Namen Consiglio d’Ornato trug. Gleich mehrere Vorzüge kamen so zusammen. Dem Namen der Obrigkeit Rechnung tragend, geschah die Stadtentwicklung unter durchaus ästhetischen Gesichtspunkten; trotz des gebirgigen Hinterlandes war im Schwemmland der Paillon-Mündung reichlich Platz für urbane Erweiterung vorhanden - und, auch nicht ganz unwesentlich im Rahmen nationaler Sympathien und Antipathien: das Ganze war nicht französisch.
So wurden denn schon im 18. Jahrhundert aus Reisenden allmählich Touristen. Und aus Touristen Überwinternde (die Winter setzte man von Oktober bis Mai). Das zunächst ausschließlich britische Publikum mietete sich mit der ganzen Familie bei einheimischen Adeligen ein. Nach und nach entstanden zu diesem Zweck immer mehr Villen und Palazzi: das Stadtviertel New Borough nahm Konturen an. Man konnte all das, was man an der Küste in und um Brighton eben erst entwickelt hatte, in eine klimatisch (noch) freundlichere Umgebung verpflanzen. Englische Privatinitiative war es denn auch, die hier etwas ganz Neues schuf: einen Weg, der nirgends hin führte, sich allein Zweck war.
Dieser Camin dei Angles, wie die Einheimischen ihn in ihrem bis heute noch bestehenden Idiom des Nissart nannten, war zunächst nichts als ein Saumpfad, in Nähe der noch ungestalteten Küste, parallel zur Straße nach Frankreich. Sein Schöpfer, ein englischer Pastor, besaß Charity-Erfahrung genug, diese Konstruktion als Akt der Wohlfahrt auszugeben. Die in Wintern nach schlechten Erntejahren notleidenden Tagelöhner sollten die Möglichkeit erhalten, sich ein Zubrot zu verdienen.
Langsames Werden
So gesehen war das Unternehmen nicht von Erfolg gekrönt: Die Arbeitskräfte blieben aus, und man handelte sich sogar einen Konflikt mit den lokalen Autoritäten ein. Das erzkatholische Königshaus und der es beratende Klerus vermuteten nämlich klammheimliche Abwerbung von der Kirche.
Aber davon abgesehen stellte dies den entscheidenden Schritt dar, der aus Nizza in jahrzehntelanger Entwicklung die Capitale d’Hiver (Hauptstadt des Winters) machte. Bald war die Promenade des Anglais, wie sie nach der Eingliederung 1860 hieß, zum Kern der neuen Bautätigkeit geworden, in der langsam Hotels die Adelsresidenzen ersetzten, Casinos und Tanzpaläste entstanden, eine vielfältige Unterhaltungsindustrie erblühte. Belle Époque und Art déco, auch noch elegant-modernistische Projekte formten ein bis heute organisches Ganzes.
Immer mehr trat auch das Meer auf den Plan. Stellte es anfangs noch die bedrohliche Grenze der Zivilisation dar (1812, also unmittelbar vor der Anlegung des Camin, erlebte Nizza den letzten Piratenangriff!), wird es in der Romantik zum Sujet des Schönen und Erhabenen. Ganz langsam wagt man sich auch körperlich näher heran. Angeleitet von Therapeuten, wurden die ersten vorsichtigen Schritte in das nicht mehr so bedrohliche Nass unternommen. Wie schon in Brighton entstanden auch hier "Badekabinen" - von Pferden gezogene Gehäuse, in denen die Gäste und Patienten gemächlich zu Wasser gebracht wurden. Selbstverständlich Geschlechtertrennung. Immer noch aber blieben Bade- und Strandvergnügen am Rand, der Tourismus war noch eine eher winterliche Angelegenheit.
Die große Umwälzung des 19. Jahrhunderts bestand in der Internationalisierung der Klientel. Vorreiter dieser zweiten Welle spielte die russische Aristokratie, allen voran die Zarenfamilie. Als ein lungenkranker Zarewitsch in Nizza starb und eine kleine Gedächtniskirche gebaut wurde, bildete sich bald eine permanente Russenkolonie, die hier nach der Revolution ihr Exil fand. Russland war es übrigens auch, das den Begriff der "Riviera" übernahm und auf die Krim exportierte - bald sollte Österreich-Ungarn mit der Küste um Abazzia folgen. Die Industrielle Revolution hatte die Distanzen überbrückbar gemacht, eine Zugfahrt von St. Petersburg dauerte zu dieser Zeit nur 30 Stunden. Nun bevölkerten auch Skandinavier und Mitteleuropäer die Promenade.
Mit dem Boom der Gründerjahre kamen auch neue gesellschaftliche Schichten hinzu. Die Stadt verstand es, durch urbanistische Maßnahmen wie die großen Straßenachsen à la Haussmann und die Erschließung der Hügel auf diese Transformationen einzugehen und im Wandel der Infrastruktur doch eine organische Einheit zu bleiben.
Den eindrücklichsten Beweis der Wandlungsfähigkeit lieferte Nizza während der Weltwirtschaftskrise ab 1929: Das mondän-urbane Leben der Années folles war fast zur Gänze zum Erliegen gekommen, aber innerhalb weniger Jahre erfand sich die Stadt neu. Nun war es der Sommertourismus, der den neuen Aufschwung brachte, und wieder haben ausländische Ein-(auch Kapital-)flüsse dazu geführt: Intellektuelle und Künstler aus der reichen Oberschicht der Vereinigten Staaten, die "lost generation", hatten, ihres Landes müde, Paris zu ihrer Hauptstadt gemacht, und verlegten ihre Sommersitze jetzt gerne ins Zentrum der Riviera.
Zentrum der Exilanten
Nach diesem amerikanischen Jahrzehnt kam mit dem Zweiten Weltkrieg die nächste große Krise, und selbst da blieb, unter anderen Vorzeichen, Nizza ein Anziehungspunkt. Verfolgte aus Mitteleuropa suchten Zuflucht in dem, was nun zwar nicht Ferienparadies, aber über längere Zeit Rettungsort war. So lebte Heinrich Mann in viel dürftigeren Verhältnissen, als er es in zahlreichen Ferienaufenthalten seit Beginn des Jahrhunderts gewohnt war - kurze Zeit teilte er sich eine Wohnung mit Josef Roth. Aber immerhin entstand hier in seinem "Henri IV" das Bild eines weisen, seine Macht zurückhaltend ausübenden Herrschers, ein Gegenbild zum "Gröfaz" Hitler.
Nach dem Krieg entsteht der Fremdenverkehr neu, und wieder anders: Viel ist jetzt geprägt vom Phänomen des Massentourismus. Das bringt Banalität und Kommerzialisierung mit sich, und hat Nizza ein wenig von seinem Glanz verlieren lassen. Die Ausrichtung auf einen reinen Dienstleistungsbetrieb, die 1968 hinter den anfänglichen Reserven gegen die Gründung einer Universität stand (die Studenten könnten ja die Ruhe der Touristen stören), waren ein bedenkliches Zeichen.
Diese Tendenzen hintanzuhalten bzw. teilweise rückgängig zu machen, ist heute das vordringliche Anliegen. Erste Erfolge in diese Richtung gibt es schon, eine Aufnahme in die Liste des Weltkulturerbes könnte dabei besonders hilfreich sein. Die Energie der Kulturverantwortlichen der Stadt ist bewundernswert, weil nicht alltäglich in der aktuellen französischen Kulturpolitik. Man denke nur an das jämmerliche Bild, das die französische Präsenz in Wien in den Vorgängen um die Demontage des Kulturinstituts abgibt . . .
Aber auch in der aktuellen Wiener Diskussion könnten die zielstrebigen Bemühungen Nizzas eine Stadt mit schon bisher hoher internationaler Reputation dazu motivieren, noch einmal zu überlegen, ob der Status als Weltkulturerbe leichtfertig auf Spiel gesetzt werden soll.
Thomas Leitner, geboren 1953, Jura- und Philosophiestudium in Paris und Wien (Assistent für Europäische Rechtsgeschichte), führte Wiens französische Buchhandlung und ist Literaturkritiker