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Ein Platz an der blutigen Sonne

Von Markus Kauffmann

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Am 9. August 1996 fährt die 36-jährige Sylvia Opitz ins oberste Geschoß eines Hochhauses und stürzt sich in die Tiefe. Sie hatte den Befund "Multiple Sklerose" nicht ertragen.


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Seit zwei Wochen ist ein Stück des Berliner Spree-Ufers nach der Unglücklichen benannt. Nicht jedem Selbstmörder wird solche Ehre zuteil. Bei der jungen Frau aber handelte es sich um eine Afro-Deutsche, eine in Hamburg geborene Tochter eines Ghanaers und einer Deutschen, die unter dem Namen May Ayim zahlreiche Texte veröffentlichte und Vorträge hielt. Ihr Thema war die Suche nach der Identität "farbiger" Frauen in Deutschland.

1984 kam sie nach Berlin, studierte hier Logopädie - nachdem sie bereits ein Pädagogik-Studium in Regensburg absolviert hatte - und arbeitete an verschiedenen Universitäten als Lehrbeauftragte.

In ihrem berühmtesten Buch "Farbe bekennen" schreibt sie: "Mit dem Begriff afro-deutsch kann und soll es nicht um Abgrenzung nach Herkunft und Hautfarbe gehen, wissen wir doch allzu gut, was es heißt, unter Ausgrenzung zu leiden. Vielmehr wollen wir afro-deutsch den herkömmlichen Behelfsbezeichnungen wie Mischling, Mulatte oder Farbige entgegensetzen, als einen Versuch, uns selbst zu bestimmen, statt bestimmt zu werden."

Das May-Ayim-Ufer war bisher benannt nach Otto Friedrich von der Gröben, geboren 1657. Er segelte seinerzeit als Leiter einer frühen Kolonialexpedition im Dienste des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich I. nach Afrika. An der Küste des heutigen Ghana hisste er feierlich die brandenburgische Flagge.

Zeitgleich mit der Straßen-Umbenennung fand in Berlin ein Tribunal zum 125. Jahrestag der Berliner Afrika-Konferenz statt. Eine Gedenktafel vor der Wilhelmstraße 92 in Berlins Mitte erinnert daran. Bismarck hatte 14 internationale Kolonialmächte eingeladen, darunter Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, Belgien, die Niederlande, Russland, die Türkei und die USA, um über eine Aufteilung des schwarzen Kontinents zu konferieren. Dabei ging es ihm weniger um die bereits in die Endphase gehende Kolonialisierung als um die Eindämmung Frankreichs und Großbritanniens.

Bernhard von Bülow hat in einer Reichstagssitzung 1897 die Kolonialpolitik Deutschlands als wohlverstandenes Eigeninteresse, aber im Zusammenhang mit der europäischen Konkurrenz im Imperialismus betrachtet. "Mit einem Worte: Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne." In diesem Satz kommt die Haltung der zu spät gekommenen Nation zum Ausdruck, die nicht genug vom großen Kuchen der Welt abbekommen hat.

Mit der Bismarck-Konferenz begann die 34 Jahre währende deutsche Kolonialgeschichte - eine kurze, doch blutige Epoche, die einer seltsamen "Amnesie" (Dominic Johnson, Afrikaredakteur der "taz") anheim gefallen scheint. Kaum jemand spricht noch davon, dass der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts auf die Terrorherrschaft in Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) zurückgeht. Die Vorfälle rund um den Aufstand der Herero und der Nama kosteten bis zu 80 Prozent des Hererovolkes das Leben; dazu starben etwa 10.000 Nama.

Der Weg vom Kolonialwarengeschäft bis zum Dritte-Welt-Laden mit "Fair Trade"-Gütesiegel war weit. Und er scheint bis heute noch nicht ganz zu Ende beschritten. Ein Blick in die Möbelhäuser zeigt, dass Kerzen tragende "Neger"-Figuren Konjunktur haben: der Schwarze als Diener des Weißen. Als May Ayim ihre Diplomarbeit über rassistische Diskriminierung ablieferte, wies ihr Professor die Arbeit mit dem Hinweis zurück, dass es in Deutschland gar keinen Rassismus gäbe.