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Ein Präsident für die Guten

Von Reinhard Göweil

Leitartikel
Chefredakteur Reinhard Göweil.

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Die Wahl von Joachim Gauck zum deutschen Bundespräsidenten ist weniger spannend als die Frage, was er in diesem Amt wohl alles sagen und tun wird. Zwar warten vor allem deutsche Politiker und Medien auf die ersten starken Worte des 72-jährigen Pastors, aber sie werden wohl Europa insgesamt beschäftigen.

Gauck tritt leidenschaftlich für Freiheit ein, und - nach seinen eigenen Worten - die damit verbundene "Ermächtigung". Der frühere DDR-Bürgerrechtler steht damit ganz in der Tradition der amerikanischen Gründerväter, die in der Unabhängigkeitserklärung das - individuell definierte - "Streben nach Glück" als unveräußerliches Recht des Menschen bezeichneten.

Gauck steht dazu, und es ist wohl kaum zu erwarten, dass er sich - einmal als Präsident des größten Mitgliedstaates der EU im Amt - plötzlich in wolkige Polit-Sprechblasen verirrt.

Auf europäischer Ebene wird Gauck schnell fündig werden, was dieser Überzeugung widerspricht. Der menschenverachtende Umgang mit Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen und die nach wie vor fehlende europäische Asyl-Regelung werden einem Joachim Gauck wohl nicht kalt und schweigen lassen.

Was aber wird passieren, wenn der deutsche Präsident plötzlich zu solchen Themen das Wort ergreift? Er wird gehört werden, obwohl er keinerlei Kompetenzen dafür hat. Er wird in Widerspruch nicht nur mit der eigenen, sondern mit allen EU-Regierungen treten. Die Hilfsorganisationen, die das ständig kritisieren, werden in Joachim Gauck einen Fürsprecher haben, auch wenn sie nicht in Deutschland sitzen. Gauck ist eine Chance, der "Zivilgesellschaft" mehr Gehör zu verschaffen.

Und er wird über kurz oder lang den Wohlfahrtsstaat neu definieren. Sozial Schwachen soll nichts weggenommen werden. Aber aus der Selbstverständlichkeit des Sozialstaates wurde immer mehr ein Automatismus, der dem Einzelnen jegliche Verantwortung abnimmt.

Und wo es keine Verantwortung gibt, dort gibt es auch keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt. "Eine Welt ohne Ressentiments wäre schon sehr nahe dem Himmelreich", sagte Gauck kürzlich im Wissen, das wohl nicht zu erreichen. Aber es beständig zu versuchen, dazu wird er ermuntern. Damit wird er nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa gehört werden - weil diese Worte aus Politikermund so selten geworden sind.