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Ein Protokoll des Chaos

Von Simon Rosner

Politik
© reuters/Lisi Nietsner

Die Ischgl-Kommission veröffentlichte ihren Bericht: Die Quarantäne kam erst zu spät, dann zu überhastet.


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Die erste März-Woche dieses Jahres: Das Corona-Virus ist in Österreich angekommen, aber noch nicht in den Köpfen der meisten Menschen. Es gibt noch keine Maßnahmen. Die Austria Presse Agentur vermeldet fast jeden Fall, es sind auch erst ein paar wenige infiziert. Scheinbar. Am 7. März berichtet die Agentur, dass ein Norweger in Tirol positiv auf das neuartige Virus getestet wurde. "Der 36-Jährige arbeitet in Ischgl in einer Bar, hieß es", zitiert die APA eine Aussendung des Landes Tirol.

Wenige Wochen später wird in Österreich über den Tiroler Skiort nur mehr in Bezug auf die "Causa Ischgl" gesprochen. Sukzessive stellt sich heraus, welche Rolle Ischgl im Infektionsgeschehen in ganz Europa gespielt hat. Laut einer Studie der Med-Uni Innsbruck vom Juni wurden bei 42,2 Prozent der Bewohner Ischgls Antikörper gefunden. Es ist zum damaligen Zeitpunkt der höchste Wert, der publiziert wurde. Weltweit.

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Am Montag wurde nun der Bericht einer vom Land Tirol eingesetzten Expertenkommission veröffentlicht, an deren Spitze Ronald Rohrer saß, der ehemalige Vizepräsident des Obersten Gerichtshofes. Das unabhängige Gremium war interdisziplinär und international zusammengestellt worden, Mitglieder waren etwa die Tourismusforscherin Nicole Stuber-Berries von der Hochschule in Luzern und der Infektiologe Winfried Kern aus Freiburg.

Der Bericht mit seinen knapp 300 Seiten ist keine Anklage, wohl aber ein penibles Protokoll von zahlreichen individuellen und strukturellen Fehlern, Fehleinschätzungen und Auslassungen. Die Folge war eine zunächst zu späte und danach zu überhastete Sperre des Skigebiets. Der Verdacht, wonach die Tourismuswirtschaft Behörden und Politik unter Druck gesetzt hätte, die Lifte offen zu halten, wird in diesem Bericht nicht erhärtet.

Erwähnt wird ein Gespräch im Büro von Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) am 12. März, bei dem dieser unter anderem Tourismusvertretern mitteilte, dass die Skisaison in Tirol mit 15. März, einem Sonntag, enden werde. Durch den Urlauberaustausch waren für dieses Wochenende bis zu 200.000 neue Feriengäste erwartet worden. Bei dieser Sitzung sei zwar mehrfach nachgefragt worden, ob diese Maßnahme verhältnismäßig sei, auch mit dem wirtschaftlichen Schaden sei argumentiert worden. Platter blieb aber bei seiner Entscheidung. Dass diese ein paar Tage früher hätte passieren müssen, ist aber auch ein Befund der Kommission.

Der Barkellner war nicht der erste Erkrankte aus Ischgl, er war nur der erste in Ischgl. Schon vier Tage davor, am 3. März, erhielt eine Hotel-Pension ein E-Mail aus Island von einer Reisebetreuerin, die von positiven Fällen in ihrer Gruppe berichtete. Wenige Stunden später schreibt die Reisebetreuerin ein weiteres E-Mail, da sie von der Fluglinie informiert worden sei, dass eine infizierte Person im Flugzeug war. Die Nachricht wurde vom Hotel weitergeleitet und fand auch die richtigen Adressaten, doch die Information wurde fehlinterpretiert. Zumindest. Denn zwei Tage später vermeldete das Land Tirol in einer Presseaussendung, dass die Ansteckung im Flugzeug stattgefunden haben dürfte.

Verhängnisvolle Fehlinterpretation

Gegenüber der Kommission erklärte Landessanitätsdirektor Franz Katzgraber, der in der Presseaussendung vom 5. März zitiert wird, dass er diese Erklärung für wahrscheinlicher gehalten habe, da es in Ischgl bis dahin keinen positiven Fall gab. Mit heutigem Wissen ist klar, dass Flugzeuge eine geringere Gefahr für Ansteckungen bedeuten als enge Apres-Ski-Bars. Und auch die Inkubationszeit geht sich mit der Flugzeug-These nicht aus.

Zu den Isländern wurde sehr wohl ermittelt, so wurde etwa beim Gemeindearzt nachgefragt, ob Personen aus Island in Behandlung waren. Die Polizei versuchte, in den Hotels Kontaktpersonen ausfindig zu machen, und der Amtsarzt erweiterte die Verdachtsfalldefinition für Tests. Alle mit Grippesymptomen sollten getestet werden, das war damals nicht so vorgesehen. Nur so wurde der Kellner entdeckt. Dann ging es schnell.

Die Umfeldtestungen ergaben am 8. März 14 weitere infizierte "Kitzloch"-Mitarbeiter, gleichzeitig trudelten aus Dänemark und Norwegen Meldungen zu erkrankten Ischgl-Urlaubern ein. Das Lokal wurde zwar kurz wieder geöffnet, ehe es schloss und am 10. März alle übrigen Apres-Ski-Bars behördlich geschlossen wurden. Nicht aber das Skigebiet. Zu spät, wie die Kommission befindet. Laut Epidemiegesetz hätte dies der Bezirkshauptmann entscheiden müssen, dieser habe aber, wie es im Gesetz auch steht, die Angemessenheit der Maßnahmen beachten wollen. Die Kommission bemängelte diese Verantwortlichkeit im Epidemiegesetz.

Zur Sperre kam es dann doch, aber ohne Vorbereitung, was zu Chaos führte. Rohrer berichtete von Leihski, die vor Geschäfte gelegt wurden, von Hotelzimmern, die eiligst verlassen wurden. "Es kam zu Panikreaktionen von Mitarbeitern und Gästen", sagte Rohrer. Bundeskanzler Sebastian Kurz hatte die Quarantäne über das Paznauntal am 13. März auf einer Pressekonferenz bekanntgegeben, Pläne über eine geordnete Abreise gab es aber nicht, Politik und Behörden verließen sich aufeinander und noch vor der Quarantäne verließen Tausende fluchtartig Ischgl.

Welche Rolle diese Fehler, Fehleinschätzungen und Auslassungen im Infektionsgeschehen tatsächlich spielten, ist aber schwer auszumachen. Modellierungen gibt es dazu nicht, klar ist heute, dass mindestens seit Mitte Februar das Coronavirus in Ischgl wütete. Das weiß man auch aus der Seroprävalenzstudie. Ab dem 16. März war dann schon das ganze Land im Shutdown. Die Musik, wie es der Simulationsforscher Niki Popper formulierte, hatte da aber bereits gespielt.

Bürgermeister wies Vorwürfe erneut zurück

Ischgls Bürgermeister Werner Kurz hat die Vorwürfe, dass er die Verordnung zur Einstellung des Skibetriebs zu spät an der Amtstafel kundgemacht hätte, unterdessen erneut zurückgewiesen. Das Vorgehen der Gemeinde sei mit den Behörden abgestimmt gewesen, ließ Kurz in einer Aussendung wissen. Nach Rücksprache mit der Bezirkshauptmannschaft (BH) sei die Verordnung am 14. März kundgemacht worden.