Der drohende Klimakollaps ist emotional noch nicht angekommen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es sind längst nicht mehr nur die jungen Menschen von "Fridays for Future", "Extinction Rebellion", "Letzte Generation" und "Erde brennt", die uns den drohenden Klimakollaps vor Augen führen. UN-Generalsekretär António Guterres warnte am Tag vor Beginn der 27. UN-Klimakonferenz davor, dass "die Welt untergehen" werde, wenn wir unser Wirtschaften und unser Wohlstandsverständnis nicht rasch ändern. Der EU-Vizepräsident Frans Timmermans drohte kurz vor Beendigung der Konferenz mit der Nicht-Unterzeichnung des Abschlussvertrags durch die EU-Staaten, wenn nicht deutlich nachgebessert werde.
Mit mäßigem Erfolg. Es gibt nun zwar einen Klimanothilfefonds für die am meisten von der Erderhitzung Betroffenen, seine Finanzierung blieb aber unklar. Der Ausstieg aus Erdöl und Gas wurde einmal mehr verschoben. Es setzte sich wohl die Fossillobby durch, an sich bereits ein Widerspruch, wenn diese bei Klimakonferenzen am Verhandlungstisch sitzt. Als würden Beschuldigte in einem Gerichtsverfahren über das Urteil mitverhandeln.
80 Prozent aus fossilen Quellen
Dahinter steht selbstverständlich der enorme Energiehunger des wachstums- und konsumfixierten Wirtschaftens. 80 Prozent des Weltenergieverbrauchs werden noch immer - nach drei Jahrzehnten Klimadebatten - aus fossilen Quellen gespeist. Zudem prognostiziert die Weltenergieagentur eine weitere Verdoppelung des Energieverbrauchs bis 2050 - das ist jenes Jahr, in dem die Welt klimaneutral sein will.
Wenn man die politischen Debatten in Österreich und anderswo mitverfolgt, bekommt man den Eindruck, dass die realen Gefahren eines Klimakollapses vor allem emotional nicht wirklich angekommen sind. Und dass die Größe der notwendigen Umsteuerung noch immer verkannt wird - eine Transformation, die jener von der Agrar- und Handwerkergesellschaft zur Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert gleicht.
In einer ORF-Debatte wies ein Politikwissenschafter der Universität Wien mehrmals darauf hin, dass Österreich seine Klimaziele weit verfehlen werde, wenn nicht verbindlichere Maßnahmen wie ein Klimaschutzgesetz kämen, was im Kontext der EU-Vereinbarungen auch teuer werde, neben den unmittelbaren Klimafolgekosten. Eine junge Aktivistin wartete mit dramatischen Befunden auf. Der Vertreter der Regierungspartei ÖVP meinte darauf, dass man die Menschen erst für einschneidendere Maßnahmen abholen müsse, Temporeduktionen auf Autobahnen und Landstraßen daher nicht in Frage kämen, obwohl das Umweltbundesamt diese als sehr wirksam beschreibt - und diese obendrein kostenneutral wären oder sogar Kosten sparen würden. Der Spritverbrauch würde zurückgehen, die Tankfüllung länger halten.
Die Vertreterin des Juniorpartners in der Regierung, der Grünen, zählte mehrmals auf, was bereits geschehe: Klimaticket, Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz, Klimabonus. Alles richtig. Aber man wünscht sich, dass die Ökopartei viel stärker auch öffentlich für alle Bürger und Bürgerinnen transparent darauf drängen würde, den Regierungspartner mehr in die Pflicht zu nehmen. Demokratie macht auch aus, unterschiedliche Positionen deutlich zu machen - das hält eine Koalitionsregierung wohl aus.
Mit physikalischen Gesetzen kann man nicht verhandeln
Demokratische Prozesse brauchen ihre Zeit - aber mit physikalischen Gesetzen kann man nicht verhandeln. Auch wenn es Unsicherheiten im Detail gibt, die Prognosen der Klimaforschung sagen eindeutig, dass wir mit den Maßnahmen rasch an Tempo zulegen müssen. Psychologisch stehen wir vor einem Dilemma: Wir hören täglich neue Horrormeldungen über die sich zuspitzende Klimakrise, aber das Leben geht weiter normal sein Lauf. Wir freuen uns, nun nach Corona wieder in der Welt herumfliegen zu dürfen. Wir finden es normal, dass durch unsere Agrar- und Lebensmittelindustrie weiterhin Böden ausgelaugt, Wälder abgeholzt und Tiere ausgebeutet werden.
Der Ernährungssektor ist weltweit für ein Viertel der Treibhausgase verantwortlich. Wir finden es auch normal, dass wieder Autorennen stattfinden - als Sinnbild moderner Schizophrenie. Solange also alles weiterhin seinen normalen Gang nimmt, denken wir uns - so schlimm kann es also doch nicht sein. Oder wie es eine Karikatur treffend ausdrückt: Zwei Männer sind unterwegs mit dem Auto. Fragt der eine: "Was tun wir, wenn uns der Treibstoff ausgeht?" Darauf der andere: "Ach was, fahren wir einfach erst einmal weiter."
Man darf von einer Politik, die Zukunftsgestaltung ernst nimmt, erwarten, dass sie sich nicht nach der vermeintlichen Mehrheitsmeinung richtet - oft sind die Bürger und Bürgerinnen in ihrem Bewusstsein weiter als man glaubt -, sondern sagt, was Sache ist, orientiert an den wissenschaftlichen Fakten. Und dass sie klare Transformationswege aus der Misere darlegt und auch umsetzt. Genau dies sind wir den jungen Generationen und all jenen, die die Klimakrise bereits jetzt hart trifft, schuldig.
Die Literaturwissenschafterin Ina Horn sieht in den Anklebe- und Schüttaktionen junger Klimaaktivisten und -aktivistinnen einen Aufschrei, weil sie sich nicht gehört fühlen. Alte Kunst wird in einen aktuellen Zusammenhang gestellt. Die Kunst der Politik wird angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts darin bestehen, nicht mehr zeitgemäße Strategien und mentale Bilder zu verlassen. Denn das Neue findet nur Platz, wenn das Alte beziehungsweise Veraltete stirbt.