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Ein Pyrrhussieg für Václav Klaus?

Von Waldemar Hummer

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Waldemar Hummer ist Universitätsprofessor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Innsbruck. Foto: privat

Der tschechische Präsident bekam vom Europäischen Rat die Zusicherung, dass die EU-Grundrechtecharta für Tschechien nicht gelten soll - ein Pyrrhussieg?


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Nun ist es offiziell. Der Europäische Rat vom 29./30. Oktober hat dem "Standpunkt" der Tschechischen Republik Rechnung getragen und den Schlussfolgerungen des Vorsitzes eine Anlage I angefügt, in der das "Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Tschechische Republik" enthalten ist. In diesem Protokoll, das aus drei Artikeln besteht, wird zunächst verfügt, dass das (alte) Protokoll Nr. 30 über die (Nicht-)Anwendung der Grundrechtecharta auf Polen und das Vereinigte Königreich nunmehr auch für die Tschechische Republik gelten soll (Artikel 1).

Die beiden weiteren Artikel verfügen die dadurch notwendigen inhaltlichen Änderungen des Protokolls Nr. 30 sowie dessen Anfügung an den Vertrag über die EU (EUV) und den Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV). Auch gemäß Punkt 2 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates soll das in der Anlage I enthaltene Protokoll zum Zeitpunkt des Abschlusses des nächsten Beitrittsvertrages dem EUV und dem AEUV beigefügt werden.

Zugleich weist der Rat durch zwei Bemerkungen indirekt darauf hin, dass es des erwähnten Protokolls im Grunde gar nicht bedurft hätte, um die Bedenken von Klaus zu zerstreuen. Zum einen verweist er auf die in Artikel 5 Absatz 2 EUV enthaltene vertikale Kompetenzverteilung, gemäß derer "Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten (verbleiben)". Damit kann die Grundrechtecharta keine Ausweitung der EU-Kompetenzen nach sich ziehen.

Zum anderen erwähnt er die Bestimmung des Artikels 51 Absatz 1 der Grundrechtecharta, gemäß derer die Charta "für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (gilt)". Aus letzterem Hinweis geht klar hervor, dass die Grundrechtecharta allein gegen Übergriffe der hoheitlichen Verbandsgewalt der EU und nicht gegenüber (mitglied-)staatlichen Eingriffen schützt - wie dies, wenn überhaupt, bei den tschechischen Bene-Dekreten der Fall gewesen sein könnte. Dieser fundamentale Unterschied wird von österreichischen Europa- und Öffentlichrechtlern des öfteren missverständlich als "Rückwirkungsverbot" der Charta bezeichnet. Hierbei wird eindeutig der sachliche mit dem zeitlichen Geltungsbereich verwechselt.

Es bedarf aber noch weiterer Klarstellungen: Zum einen wird durch den Begriff "Standpunkt" der Tschechischen Republik in den Schlussfolgerungen fälschlicherweise der Eindruck erweckt, dass es sich bei dem Anliegen um einen formellen Beschluss der Regierung - die aber dem Vertrag von Lissabon positiv gegenübersteht - und nicht um eine isolierte Forderung des Präsidenten handelt. Zum anderen muss angemerkt werden, dass das Protokoll erst im Zusammenhang mit dem nächsten Beitrittsvertrag primärrechtlich verankert werden kann, was wohl nicht vor 2012 der Fall sein dürfte - ganz gleich, ob es sich dabei um den Beitritt Kroatiens oder Islands zur EU handeln wird.

Die entscheidende Frage ist aber, ob Klaus mit der Reklamierung des Grundrechte-Protokolls nicht einen Pyrrhussieg errungen hat. Wie die Vorgangsweise der Slowakei zeigt, die sich als zweiter Nachfolgestaat der CSSR ursprünglich der Forderung Tschechiens anschließen wollte, in letzter Minute aber zurückzog, hat der Ausschluss der EU-Grundrechtecharta auch Nachteile. Tschechische Staatsangehörige können sich im Falle einer rechtswidrigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts dann nicht auf sie berufen.