"Jeder Mensch" von Ferdinand von Schirach enthält einen Vorschlag für sechs neue Artikel zur Grundrechte-Charta.
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Der deutsche Erfolgsautor Ferdinand von Schirach sorgt mit einem kleinen blauen Büchlein für Aufsehen. "Jeder Mensch" ist der Titel dieser kleinen Mini-Schrift, die einen Vorschlag für sechs neue Artikel zur Grundrechte-Charta samt begleitenden Anmerkungen enthält.
Dieser Text hat sofort für Aufsehen und für intensive Diskussionen gesorgt. In unserer von medialen Impulsen übersättigten Welt ist allein das schon ein Erfolg. Ein illustres Beratungsteam hat an dieser Schrift mitgewirkt: Prof. Dr. Remo Klinger, Dr. Ulrich Karpenstein, Dr. Bijan Moini, Prof. Dr. Armin von Bogdandy und Prof. Dr. Jens Kersten. Wer sich aber auf dieser Grundlage einen dogmatisch anspruchsvollen, gelehrten, epistemischen Text aus der deutschen Grundrechtswissenschaft erwartet, der irrt. Der Artikelentwurf ist unkonventionell, er passt in keine traditionelle Schublade – und er ist deshalb gerade für Juristen vielleicht auch irritierend und dennoch hochspannend.
Entsprechend vielfach sind die Reaktionen ausgefallen: Überschwängliches Lob für das Vorhaben als Ganzes, endlich ergreift jemand die Initiative – aber bitte doch nicht in dieser Ausgestaltung! Konkret in dieser Form geht das doch gar nicht! So der Tenor vieler Erstanalysen. Von Schirach und sein Beraterteam dürften damit schon ein wesentliches Etappenziel erzielt haben. Endlich werden Zukunftsfragen, die uns alle bewegen, die wir aber technisch nicht in den Griff zu bekommen scheinen, auf sachlicher Ebene diskutiert. Und was ist sachlich-nüchterner als ein deutsches Juristenforum?
Recht auf eine saubere Umwelt gefordert
Für eine detailliertere Behandlung der einzelnen Artikel fehlt hier der Raum. Deshalb nur ein paar Worte zu den maßgeblichen Forderungen
Es wird ein Recht auf eine gesunde, geschützte Umwelt postuliert (Art. 1.). Das Gut "saubere Umwelt" ist aber ein Produkt eines komplexen gesellschaftlichen Entscheidungsprozesses mit vielfältigen Opportunitätskosten und Ergebnis von Externalitäten, gerade auch im grenzüberschreitenden, transkontinentalen Kontext. Artikel 2 fordert die "digitale Selbstbestimmung", Artikel 3 setzt Barrieren für die Entwicklung der künstlichen Intelligenz. All diese Fragen stellen sich wiederum in einem internationalen Kontext – kann hier die EU einen Alleingang auch nur andenken?
Die "digitale Selbstbestimmung" wird bereits durch die Datenschutzgrundverordnung in vielem verwirklicht. In der künstlichen Intelligenz wird ein entscheidender Antrieb für die Wirtschaft und für die technologische Entwicklung gesehen – wenngleich die Gefahren, die damit auf globaler Ebene verbunden sind, durchaus erkannt werden. Ein Alleingang Europas ist hier wenig sinnvoll – eine europäische Initiative zur globalen Steuerung der KI-basierten Verfahren und Instrumente hingegen sehr wohl.
Gemäß Artikel 4 hat jeder Mensch das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen. Wer diese Forderung nicht - allzu billig – als Ausdruck von Naivität abtun will, wird rasch Anwendungsbereiche von besonderer Brisanz finden. Es werden Reminiszenzen an eine populistische Politik in Erinnerung gerufen, die nicht einmal eine politische Verantwortung zur Folge hat, an Beamtenwillkür im Obrigkeitsstaat, an wahrheitswidrige Aussagen von "Honoratioren" vor Gericht ohne Konsequenzen. In Österreich hat diese Bestimmung jüngst eine befremdliche, zusätzliche Aktualität durch den Vorschlag erlangt, Zeugen in Untersuchungskommissionen von der Wahrheitsverpflichtung zu entbinden.
Arbeitnehmerrechte in der Lieferkette schützen
Art. 5 will einen Teilaspekt der Globalisierung regeln und in der Substanz Arbeitnehmer- und Menschenrechte in der Lieferkette schützen – und diese Rechte in Europa einklagbar machen. Diesbezügliche Ansätze gibt es bereits. Die damit verbundenen Herausforderungen sind enorm – aber zu bewältigen (siehe Hilpold, 50 BDGIR 2020, 182). Vielleicht kann der Von-Schirach-Text in Deutschland einen Anstoß geben, beim geplanten Lieferkettengesetz etwas mehr Mut zu zeigen. In Österreich hinkt die diesbezügliche Diskussion ohnehin noch weit hinterher.
Art. 6 enthält die Bestimmung, die wahrscheinlich dem traditionellen Grundrechtsschutz am nächsten liegt, am einfachsten zu realisieren wäre und für die Grundrechtecharta einen unmittelbaren Mehrwert schaffen würde: Die Einführung einer individuellen Grundrechtsklage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Wenn an anderer Stelle des Artikelentwurfs Übermaß geübt wird, dann ist hier jedoch ein Zuviel an Vorsicht gegeben: Weshalb sollte diese Klage nur bei "systematischen Verletzungen" zulässig sein? Damit nach jetzigem Maßstab nur die "Renegaten der Rechtsstaatlichkeit" (so wunderbar formuliert von Ulrich Hufeld) – nur Ungarn und Polen - davon betroffen sind?
Der fehlende individuelle Zugang der Bürger zum EuGH ist ein echtes Problem in der Union – insbesondere, wenn es in einzelnen Mitgliedstaaten gepaart mit dem Umstand auftritt, dass letztinstanzliche Gerichte gerade in politisch heiklen Fällen nicht vorlegen und dies nicht einmal begründen. Die Grundrechte-Charta wird damit zur Chimäre, zu einem politischen Dokument, dessen Relevanz davon abhängt, ob der zuständige Richter EU-Recht kennt beziehungsweise bereit ist, dieses anzuwenden.
Unmittelbarer rechtlicher Handlungsbedarf aufgezeigt
Fazit: Einige der Forderungen im Von-Schirach-Text mögen begrenzt justiziabel sein und vielfacher weiterer Abwägungen bedürfen, wie die Forderung nach einer integren Umwelt. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat aber gerade Ende April 2021 mit seinem Urteil zum Klimaschutzgesetz gezeigt, dass selbst derart komplexe Sachverhalte einer juristischen Positionsnahme zugänglich sind. Andere Artikel (insbesondere 4, 5 und 6) verweisen hingegen auf einen unmittelbaren rechtlichen Handlungsbedarf und auf eine konkrete Handlungsmöglichkeit.
Allein schon, wenn einzelne Artikel dieses Katalogs im Rahmen der nächsten Vertragsreform Beachtung finden würden, hätten sich von Schirach und sein Beraterteam dauerhafte Verdienste für das europäische Grundrechts- und Integrationsprojekt erworben. Die Einklagbarkeit in Europa von Grundrechtsverstößen außerhalb davon, wäre ein epochaler Schritt. Bildhaft gesprochen würde Lafayette damit in die USA zurückkehren, wo der genau entsprechenden Regelung, dem Alien Tort Claims Act, die Zähne gezogen wurden (insbesondere in "Kiobel"). Die Individualrechtsbeschwerde vor den europäischen Gerichten ist hingegen ein Muss, wenn das Europarecht auch in das Denken der Juristen – selbst in den spät beigetretenen Mitgliedstaaten – Einzug halten soll (vgl. auch Hilpold, Festschrift Neisser, 2021, 262).