Die Katastrophe in Fukushima sollte uns das Hantieren mit der Worthure "Restrisiko" abgewöhnen. "Rest" meint im Sprachgebrauch eine lächerliche Kleinigkeit. Das schale "Resterl" im Bierglas schüttet man einfach weg. Doch das "Restrisiko" in Fukushima planten die Konstrukteure ein. Sie "versicherten" das AKW bis Erdbebenstärke acht und eine acht Meter hohe Tsunamiwelle. Augenscheinlich lohnten die gewaltigen Kosten einer höheren "Versicherung" wirtschaftlich nicht.
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Das Beben schlug allerdings mit Stärke neun zu - mit zehnmal stärkerer Zerstörungskraft als Stärke acht. Und die Tsunamiwelle rollte mit zehn Metern Höhe an. Die materiellen Schäden gehen in dreistellige Milliardenbeträge, die Zahl der Toten steigt täglich weiter. Das "Restrisiko" ist somit im Mega-Maßstab der vermeintlichen Harmlosigkeit entkleidet.
Das AKW Isar 1 bei Landshut ist auch wegen des Restrisikos abgeschaltet, dass eine "Luftschutz"-Betonhaube fehlt. Es liegt in einer Einflugschneise des Großflughafens München. Dass eine Maschine auf das AKW abstürzt, gilt als unendlich unwahrscheinlicher denn ein Sechser im Lotto. Dass sich Terroristen für einen zielsicheren Selbstmordabsturz mit einem gekaperten Flugzeug ausgerechnet Isar1 aussuchen? Angesichts ungleich "attraktiverer" Ziele anderswo ein leicht erträgliches "Restrisiko"! Also dreht sich
der politische Eiertanz um
das Isar-Restrisiko im Wechselschritt zwischen ganz zu sperren oder mit Betonhaube "versichern".
Ein beängstigendes Langzeit-Restrisiko birgt die Nutzung der Atomkraft: Wohin restrisikofrei mit dem ständig anwachsenden atomaren Müllhaufen? Weil diese Grundfrage längst nicht gelöst ist, behilft man sich mit Zwischenlagern wie mit der Asse in Deutschland. Einwände von Experten, dass dieses Zwischenlager keineswegs absolut wasserdicht sei, verfiel der verharmlosenden Beschwichtigung "Restrisiko". Leider behielten die skeptischen Experten recht: Weil Wasser in die Kavernen tief im Berg eindringt, müssen die atomaren Mülltonnen umgesiedelt werden.
Aus diesen Beispielen lernen wir unabweisbar: Restrisiko bedeutet immer Kernrisiko, denn es geht um alles. Einen Beweis dafür liefert gerade in den Alpenländern die Lawinengefahr. In Gelände von weniger als 23 Grad Neigung besteht nie Lawinengefahr, es sei denn, dass es unterhalb von steileren Hängen liegt. Zu Recht warnen Lawinenexperten immer wieder, dass selbst bei Lawinenwarnstufe 0 stets ein Restrisiko bestehe. Dieses nistet in den labilen Schneeschichten einer "Störzone" schon ab der Größe einer Drei-Zimmer-Wohnung. Wiewohl diese Gefahr von außen nicht zu erkennen oder zu messen ist, wissen Erfahrene, wo sie am ehesten lauert. Wird aber eine Störzone von Skiläufern angeschnitten und eine Lawine ausgelöst, so wächst das "Restrisiko" zum tödlichen Kernrisiko für das Leben an. Daher ohne Wenn und Aber: "Restrisiko" verharmlost das Maximalrisiko.
Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".