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Ein "riesiges blaues Auge"

Von Edith Grünwald

Politik

Washington - Die Familie der im Irak als Kriegsgefangene festgehaltenen und spektakulär befreiten jungen US-Soldatin Jessica Lynch machte Witze darüber, als ihr Haus in der "New York Times" beschrieben wurde - "mit Blick auf Tabakfelder und Rinderweiden". Tatsächlich liegt das Häuschen in einem bewaldeten Tal zwischen den Bäumen. Der "Times"-Reporter, der die Szene so bildhaft aber falsch beschrieb, war offenbar nie selber bei den Lynchs.


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Die Lynchs haben sich über

die offenkundigen Fehler im Bericht zwar amüsiert aber nie bei der Zeitung beschwert. Eine Beschwerde kam jedoch vom Chefredakteur des "San Antonio Express", dem eine Geschichte von demselben "Times"-Reporter über die Mutter eines im Irak vermissten US-Soldaten aufgefallen war. Einen sehr ähnlichen Bericht hatte zuvor eine Repor-

terin des texanischen Blatts geschrieben - nach einem Besuch bei der Familie. Diese konnte sich nicht erinnern, je mit einem "Times"-Reporter gesprochen zu haben. Der Betrug flog auf: Der so einfühlsam geschriebene "Bericht" auf der Titelseite der "Times" war offenbar gestohlen.

In 36 von 73 Artikeln, die Jayson Blair seit vergangenem Oktober für den Inlands-Desk der "New York Times"schrieb, wurden nun bei einer internen Untersuchung Fehler gefunden - von Berichten über den "Sniper" in Washington DC bis zu Reflektionen von im Irak verwundeten US-Soldaten. Abgeschriebene oder erfundene Zitate, Interviews, die den Eindruck einer Vor-Ort-Berichterstattung erwecken, in Wirklichkeit jedoch offenbar in einer Mischung aus Telefonat, Fantasie und ungenannten Quellen in anderen Medien entstanden sind. Der 27-jährige scheint demnach offenbar Journalismus mit "kreativem Schreiben" verwechselt zu haben.

Dabei machte er offenbar auch vor persönlichen Lügen nicht halt: Weil er nach eigenen Angaben einen Cousin beim Terroranschlag vom 11. September 2001 auf das Pentagon verloren hatte, wurde er von der Mitarbeit an der Serie "Portraits der Trauer" über Angehörige der Terroropfer entbunden. Nun wurde die Familie des Genannten von der Zeitung kontaktiert - sie hatte von dem angeblich mit ihr verwandten "New York Times"-Reporter noch nie etwas gehört. Auch seinen Abschluss an der Universität hat Blair nie gemacht- obwohl die Zeitung darüber bisher anderer Meinung war.

Der Reporter kündigte und entschuldigte sich, weitere Stellungnahmen von ihm gibt es bisher nicht. Umso ausführlicher hat die "New York Times" selber reagiert: "Ein riesiges blaues Auge" nennt Herausgeber Arthur Sulzberger Jr. den Fall, der das Vertrauensverhältnis zwischen der Zeitung und ihren Lesern erschüttere. Als "Tiefpunkt in der 152-jährigen Geschichte der "New York Times" charakterisiert das ad-hoc ernannte Recherche-Team die Angelegenheit. Und Star-Kolumnist William Safire beschreibt die Stimmung in der Redaktion: Es mache praktisch jeden der 375 Redakteurinnen und Redakteure krank, wie ein einziger Reporter die Leser und seine Kollegen mit seinen Plagiaten anhaltend betrogen habe.