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Ein Riss in der ägyptischen Gesellschaft

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Armee will "nationale Versöhnung" - Krawalle in Kairo.


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Kairo. Khalil ist verschwunden. Seitdem Präsident Mohamed Mursi entmachtet wurde und die Verhaftungen der Muslimbrüder begannen, wurde der 48-jährige Journalist nicht mehr gesehen. Das Handy klingelt, aber keiner nimmt ab. Nur einmal meldete er sich kurz über das Festnetz, um ein Lebenszeichen zu geben. Die Konversation wurde schnell unterbrochen. "Ich habe Probleme", war alles, was er sagen konnte.

Seit Donnerstagmorgen sind etliche Fernsehsender in Ägypten geschlossen worden, Zeitungsbüros wurden durchsucht, Journalisten verhaftet. Khalils Arbeitsschwerpunkt war die Korruption. Schon einmal wurde die zwei Mal wöchentlich erscheinende Zeitung "Al Shaab", für die der Ägypter arbeitet, dichtgemacht. Im August letzten Jahres publizierte Chefredakteur Magdi Hussein einen Artikel, in dem er die Rolle des ägyptischen Inlandsgeheimdienstes kritisch unter die Lupe nahm und ihm vorwarf, noch immer die Praktiken der Mubarak-Ära anzuwenden. Unter Präsident Mursi durfte das Blatt wieder erscheinen. Ursprünglich war "Al Shaab" (das Volk) 1979 als sozialistische Arbeiterzeitung gegründet worden, wandte sich aber später der islamischen Ideologie zu und tauchte schließlich regelmäßig auf der Webseite der Muslimbrüder auf. Auch Khalil ist verbunden mit "Ikhwan", wie die Bruderschaft auf Arabisch heißt. Sein Onkel war Mitbegründer der Muslimbrüder vor 80 Jahren.

Unterdessen gehen die Auseinandersetzungen um Ägyptens Zukunft weiter. Die Zahl der Menschen, die derzeit auf den Straßen des Nillandes demonstrieren, übertrifft bei weitem die Massen, die den Sturz von Langzeitpräsident Husni Mubarak bewirkten. Kommentatoren ägyptischer Medien bezeichnen deshalb die derzeitigen Proteste euphorisch als "gigantisch" oder "einzigartig in der Geschichte". Über die tatsächliche Zahl der Demonstranten gibt es aber nach wie vor unterschiedliche Angaben. Manche sprechen von 14 Millionen, andere von über 20. Tatsache ist, dass sich zwei ideologische Lager nahezu gleich stark gegenüberstehen. In nur zwei Jahren sind die 83 Millionen Einwohner so gespalten wie nie zuvor. Eine bittere Erfahrung für viele. Der Riss macht auch vor den Haustüren nicht halt. Familien, Ehepartner, Geschwister streiten um den Weg, den Ägypten jetzt einschlagen sollte. Ein "Tag des Zorns" wurde am Freitag von den Islamisten ausgerufen, um gegen die Absetzung ihres demokratisch gewählten Präsidenten zu demonstrieren. Anfang Februar 2011 gab es schon einmal eine Massendemonstration mit demselben Slogan. Damals versammelten sie sich gemeinsam mit der liberalen und säkularen Protestbewegung gegen Mubarak am Tahrir-Platz. Jetzt nennen sie das Vorgehen der Streitkräfte und der Opposition einen "Putsch gegen die Demokratie". Mit dem neuen Interimspräsidenten will man nicht zusammenarbeiten. Der Sprecher der Muslimbrüder lehnte das Angebot von Adli Mansor ab. Erlebt Ägypten eine nicht enden wollende Revolution?

"Muslimbrüder verlieren Glauben an die Demokratie"

Scheich Farag Abu Thir will trotz aller Tumulte die Ruhe bewahren. In seinem langen, hellbraunen Gewand und dem roten Hut spricht der Religionsgelehrte langsam und bedacht. Als Mitglied des Rechtsausschusses der sunnitischen Religionsschule Al Azhar ist er zur Versammlung der Muslimbrüder an der Rabaa-al-Adawija-Moschee im Kairoer Stadtteil Nasr City gekommen, um sie in ihrem Protest zu unterstützen. Während der höchste Imam der Al-Azhar-Moschee, Scheich Ahmed el-Tayeb, sich an der Seite von General Abdul Fattah al-Sisi befand, als der die Absetzung Mursis verkündete und den künftigen Fahrplan der Militärs rechtfertigte, steht Scheich Abu Thir auf der anderen Seite.

Selbst Al-Azhar, die höchste Instanz des sunnitischen Islam, ist also gespalten. Es sei nicht fair, einen demokratisch gewählten Präsidenten abzusetzen und ihn dann noch zu verhaften, sagt der hochgewachsene Mann der "Wiener Zeitung". Er habe schließlich auch Gutes getan. So sei die Medienlandschaft noch nie so frei gewesen wie jetzt. Mursi habe "Horraya" - Freiheit - ganz großgeschrieben und zu seinem Programm gemacht. Auch die freie Religionsausübung habe in dem einen Jahr seiner Amtszeit breiten Raum eingenommen. Unter Mubarak fast unmöglich, würden jetzt viele neue Kirchen gebaut. Die Genehmigungen wären unbürokratisch und schnell erteilt worden. In der Armutsbekämpfung sei man auf dem Land ein gutes Stück vorangekommen. Doch nach nur einem Jahr könne man nicht alles neu organisieren.

Der Religionsgelehrte sieht jetzt die Gefahr, dass die Anhänger der Muslimbruderschaft den begonnenen Glauben an demokratische Prozesse durch "diesen Militärputsch" verlieren und sich künftig verweigern. Dass der politische Islam durch das Eingreifen der Militärs zerschlagen ist, glaubt Scheich Abu Thir jedoch nicht. Er sieht durchaus eine Chance, sich neu aufzustellen. Es gäbe jetzt drei Faktoren in der ägyptischen Gesellschaft. Die Armee, an der niemand vorbeikäme, wie sich gerade zeigt. Eine zersplitterte Opposition und die durch die äußere Bedrohung geeinten Islamisten. Ob er deren Radikalisierung befürchte? "Ich wage keine Prognose", ist die knappe Antwort.

In einer im Internet veröffentlichten Erklärung betonten die Streitkräfte ihre politische Neu-tralität. Es werde keine außergewöhnlichen oder willkürlichen Maßnahmen gegen irgendeine politische Gruppe geben. Ein Militärsprecher sagte, die Armee und die Sicherheitsbehörden wollten sicherstellen, dass es zu einer "nationalen Versöhnung, konstruktiven Gerechtigkeit und Toleranz" kommt. Er sagte zwar nicht, wie dieses Ziel erreicht werden solle, betonte aber, dass nur friedliche Proteste geduldet würden. Der "endlose Kreislauf der Rache" müsse vermieden werden.

Davon konnte nicht die Rede sein. Bereits am Freitag Nachmittag kam es zu blutigen Vorfällen. Als Islamisten versuchten, zu jenem Militärgebäude vorzudringen, in dem Mursi gefangen gehalten wurde, fielen Schüsse. Mehrere Tote wurden abtransportiert, es gab Verletzte.