Wohlmeinende Ratschläge lauten: Die SPÖ müsse alle arbeitenden Menschen vereinen, auch neue Selbständige. Doch wie soll das bei so diversen Bedürfnissen gehen?
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An einem Dienstagabend sitzt der steirische SPÖ-Abgeordnete Max Lercher auf dem Podium einer parteiinternen Veranstaltung. Es geht, natürlich, um die SPÖ, ihre schwierige Gegenwart und eine unsichere Zukunft. Die Partei war einmal eine Partei der Arbeiter, später auch der Angestellten. Und heute? Lercher sagt, in der SPÖ werde inzwischen über Arbeitnehmer in einer Art und Weise debattiert, dass er, Lercher, seiner eigenen Partei manchmal gerne einen solchen vorstellen würde. "Wir reden von Arbeitnehmern wie von Fabelwesen. Wir kennen sie nicht mehr."
Lercher bekommt Applaus, immer wieder. Später meldet sich eine Zuhörerin und beklagt, dass sich die SPÖ zu wenig um die neuen Selbständigen kümmere, die sehr prekär leben würden. Wieder Applaus. Das alles deckt sich durchaus mit wohlmeinenden Ratschlägen innerhalb und außerhalb der SPÖ, wie sich die Partei künftig ausrichten müsse.
Und es ist ja auch richtig: Der Arbeitsmarkt hat sich signifikant verändert und zunehmend fragmentiert: Teilzeit, Leiharbeit, Befristungen, neue Selbständigkeit und/oder Geringfügigkeit. Nichts ist mehr wie früher. Die Unternehmen verlangten nach mehr Flexibilität und bekamen sie auch. Vieles davon passierte unter SPÖ-Kanzlerschaft, weshalb sich gegen die Roten auch der Vorwurf richtet, diese Entwicklungen zugelassen zu haben.
Tatsächlich zeigen sich diese Entwicklungen in ganz Europa, in Österreich tendenziell aber abgeschwächt. Dass sich zum Beispiel in gewissen Branchen immer mehr Selbständige verdingen, die früher in Angestelltenverhältnissen waren, ist nicht gesetzlich herbeigeführt worden. Vielmehr versuchte die damalige rot-schwarze Regierung in den 90er Jahren, die soziale Absicherung für diese Arbeitskräfte zu verbessern. Ähnlich war es beim Gesetz für die Arbeitskräfteüberlassung 1988. Denn Leiharbeiter gab es vorher auch, es wurde dann aber ein rechtlicher Rahmen geschaffen. Es ging also nicht um einen Fundamental-Kampf gegen solche Entwicklung, sondern um eine pragmatische Verbesserung der Situation für die Betroffenen. Ein Fehler? Oder hätte man es "nur" besser verkaufen müssen?
Die Fragmentierung bedingt auch, dass sich die Bedürfnisse der arbeitenden Menschen ausdifferenziert haben. Wie soll die einstige Arbeiterpartei eine Industriearbeiterin und den prekär arbeitenden Grafiker unter einem Dach vereinen? Eine ausgebildete Maschinenbauerin verdient nach einigen Dienstjahren schon 3000 Euro brutto aufwärts und kann an Grund, Haus und Zweitauto denken. Der selbständige Grafiker eher nicht, dafür verfügt er aber über mehr individuelle Freiheit. Auch das ist ein Wert, für manche ein größerer als Sicherheit.
Flexibilität ist eben nicht nur ein Bedürfnis der Wirtschaft, sondern auch der Arbeitnehmer. Das zeigte auch eine Umfrage der Arbeiterkammer im Vorjahr. Der Wunsch: mehr Autonomie über die Arbeitszeit.
"Die SPÖ gibt esin diesem Bereich nicht"
Ex-Kanzler Christian Kern hat den Bereich der neuen Selbständigen vor zwei Jahren in seinem Plan A zumindest grob umrissen. Für eine kurze Zeit war dieses auch kommunikativ ein starkes Thema der SPÖ. Damals gründete sich auch die Teilgewerkschaft vidaflex, die sich verstärkt um Einpersonenunternehmen und freie Dienstnehmer kümmern soll.
Mit Kerns Rücktritt verlor die SPÖ die neuen Selbständigen wieder aus den Augen. Unter Parteichefin Pamela Rendi-Wagner spielen diese eine eher untergeordnete Rolle. Die vidaflex verschwand darüber hinaus völlig aus der öffentlichen Debatte.
Doch abgesehen davon, dass Lohnforderungen von Selbständigen, also zum Beispiel ein Mindeststundensatz für Grafiker, aus rechtlichen Gründen problematisch sind - es könnte sich nämlich um eine verbotene Preisabsprache handeln -, gibt es auch ein Solidaritätsproblem. Und zwar zwischen den Arbeitenden. Bei neuen Selbständigen handelt es sich um eine Gruppe, die zwar mehr soziale Sicherheit einfordert, die teilweise sehr prekär lebt, gleichzeitig aber geringere Beiträge leistet. Zudem ist diese neue Form doch stark auf den urbanen Raum konzentriert. Es ist also auch ein Stadt-Land-Thema.
"Das größte Thema ist, dass die alle so unfassbar divers sind", sagt Oliver Stauber, Rechtsanwalt und Vorsitzender von vidaflex. Die 24-Stunden-Pflegerinnen, Friseure, Fahrradkuriere und Filmschaffenden, sie alle haben unterschiedliche Bedürfnisse und kein klassisches Klassenbewusstsein. "Die unter einen Schirm zusammenzufassen, ist schon echt eine Herausforderung", sagt Stauber.
Den Solidaritätskonflikt zu lösen, ist auch nicht so einfach, wenn die Lebenswelten so auseinanderdriften. Wann trifft die Jungakademikerin mit befristeter Stelle an der Uni auf den Friseur in Favoriten? Wie soll die Supermarkt-Kassierin auch die prekären Filmschaffenden mit sich auf einer Ebene verstehen?
Ein Betrieb wie die Voest hatte über viele Jahre für die SPÖ gleich mehrere Vorteile: Die Belegschaft war homogener und die Partei mit Betriebsräten und Gewerkschaften in den verstaatlichten Unternehmen tief verwurzelt. "Das konnte man damals viel leichter organisieren als heute etwa im Handel", sagt Helmut Hofer, Arbeitsmarktexperte des IHS. Was sich bis heute hält, ist aber die Erwartung der klassischen SPÖ-Wählerschaft, die Partei möge "etwas für sie tun". Was genau, bleibt oft nebulös. Aber natürlich war das einst im Angebot der SPÖ: Job, Wohnung, eine Lehrstelle für den Nachwuchs.
Diese Logik gibt es in der neuen Arbeitswelt nicht mehr. "Die Einpersonenunternehmerin, die Honorarnoten von zigtausenden Euro im Monat legt, braucht uns und die SPÖ nicht", sagt Stauber. Die "unfreiwilligen neuen Selbstständigen", die die SPÖ aus Staubers Sicht bräuchten, würden die Genossen aber so gut wie nicht erreichen. Ein Mitgrund: "Die SPÖ gibt es in diesem Bereich nicht", sagt Stauber. Uber-Fahrer und Essenslieferanten würden sich in sozialpolitischen Fragen auch eher in eigenen Gruppierungen organisieren. Das macht es wohl auch für vidaflex nicht einfacher, in dieses Milieu durchzudringen.
Am roten Wissen über die neue Arbeitswelt soll es aber nicht scheitern, meint Stauber. Es gebe genügend Know-how in der Partei, aber auch in der Gewerkschaft, der Arbeiterkammer und von SPÖ-nahen Wissenschaftern. Es hätte in den vergangenen Jahren in der SPÖ zahlreiche Arbeitsgruppen gegeben und es seien etliche Papiere geschrieben worden, "die aber letztlich nur auf Überschriften reduziert und am Ende des Tages gekübelt wurden", sagt Stauber. Bis in die Parteizentrale dringe das aufgebaute Wissen über die neue Arbeitswelt nicht vor und wenn doch, dann werde es nicht glaubwürdig von der Parteispitze vertreten, sagt Stauber.
Der Staatswissenschafter Markus Wagner weist auf mehrere Probleme der SPÖ hin. In der Geschichte habe die Sozialdemokratie immer einen Spagat zwischen klassischen Arbeitern, Menschen in öffentlichen Berufen bis hin zur Kultur und Wissenschaft geschlagen. Das werde aber schwieriger, weil die Interessen dieser Gruppen auseinandergehen.
Der politische Spagatwird immer schwieriger
Das altehrwürdige Arbeitermilieu der SPÖ werde auch immer kleiner, weshalb es für die Partei auch immer weniger Sinn mache, sich dorthin zu orientieren, meint Wagner. Obendrein wählen die klassischen Arbeiter heute eher FPÖ, oft auch ÖVP - oder gar nicht. In vielen geringqualifizierten Jobs werken ausländische Arbeitnehmer, sie sind in Österreich nicht wahlberechtigt.
"Wenn man die SPÖ weiterhin als große Partei haben möchte, muss sie sich auch neuen Themen öffnen, die alten werden dafür nicht ausreichen." Das heißt, laut Wagner, dass sich die SPÖ auch entscheiden müsse, was sie mehr betonen möchte: Pensionen und Hacklerregelung für die Älteren oder Flexibilität und bessere Kinderbetreuung für die Jüngeren.
Den neuen Selbständigen geht es aber nicht nur um die Wirtschaft, sondern auch um sozialliberale Positionen. Ein Streitpunkt ist hier das bedingungslose Grundeinkommen, es würde wohl die individuelle Situation von prekär lebenden Selbständigen verbessern. Zuletzt hatte auch Kärntens Landeschef Peter Kaiser in einem Brief an die Partei einen Vorstoß in diese Richtung unternommen. Doch unterstützt diese Idee auch der Industriearbeiter?
Zurück zur SPÖ-Veranstaltung. In einer der letzten Wortmeldungen wird darauf hingewiesen, dass die Partei über die Jahre viele Mitglieder verloren hätte. Es seien vor allem die Ehrenamtlichen gewesen, die gingen, zu wenige neue kamen nach. Übrig geblieben seien die Funktionäre, man müsse nur einen Blick auf die Listen bei Wahlen werfen. Tatsächlich sind nur wenige der 40 Abgeordneten der SPÖ etwas anderes als Politiker. Freilich, die Zeiten, in denen dies anders war, liegen schon sehr weit zurück.