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Geschichte, das ist kein linearer Prozess. Über Wochen und Monate mäandert der Lauf der Welt dahin, und dann gibt es plötzlich Tage und Wochen, wo sich die Dinge ruckartig - wie tektonische Platten bei einem Erdbeben - verschieben. Die vergangenen Tage waren eine solche Zeitperiode.
So verstummten am 27. August die Diskussionen über das Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer, über Dublin II und Dublin III, über Grenzzäune in Ungarn oder Flüchtlingsunterbringung in Österreich. An diesem Tag wurde bekannt, dass in einem Kühl-Lkw zig Flüchtlinge, die sich von Ungarn nach Österreich schleppen lassen wollten, qualvoll erstickt sind. Dann am 3. September das erschütternde Foto des bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ertrunkenen dreijährigen Aylan Kurdi, wie er reglos, mit dem Gesicht nach unten, am Strand von Mugla, liegt.
Das politische Klima hat sich seither verändert: Die Dublin-III-Verordnung - nach der Asylsuchende in dem Land registriert werden müssen, in dem sie zuerst EU-Boden betreten - wurde faktisch außer Kraft gesetzt und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel warnte am 31. August: Wenn Europa in der Flüchtlingsfrage scheitert, dann sei das nicht das Europa, das sie sich wünsche. Was Merkel nicht dazusagte: Das Land wird die derzeit ankommenden Flüchtlinge wohl gut am Arbeitsmarkt unterbringen können. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland beträgt 4,7 Prozent, es herrscht praktisch Vollbeschäftigung, Daimler-Boss Dieter Zetsche jubilierte: "Die meisten Flüchtlinge sind jung, gut ausgebildet und hochmotiviert. Genau solche Leute suchen wir."
Die wichtigsten Länder der EU haben sich nun auch endlich auf einen Verteilungsschlüssel der Flüchtlinge geeinigt. Das neue Europa, die Visegrád-Gruppe (Tschechien, Slowakei, Polen, Ungarn), haben hingegen wenig zur Bewältigung der Flüchtlings-Herausforderung beizutragen - wobei die Haltung Ungarns als besonders destruktiv auffällt.
Und Österreich? ÖBB, Hilfsorganisationen und Zivilgesellschaft haben Bund, Ländern und Gemeinden gezeigt, wie’s geht. Mitmenschlichkeit brach sich eine Bahn gegen Zynismus und Misanthropie, eine Welle der Hilfsbereitschaft schlug den Ankommenden entgegen. Das Land ist über sich selbst erstaunt. Ob auf die Gutmenscheneuphorie am 27. September und 11. Oktober bei den Wahlen in Oberösterreich und Wien die Ernüchterung folgt, wird man sehen.