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Ein Rückzug als Niederlage

Von Thomas Seifert

Politik
Ukrainische Soldaten auf einer 2S7 Pion Kanonenhaubitze in der Nähe der Cherson-Front.
© reuters / Ratynskyi

Die Evakuierung russischer Truppen aus Cherson ist Putins nächste Niederlage im Ukraine-Kriegsdebakel.


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Zwei entzückende Kinder in mit traditionellen ostslawischen Stickmustern bestickten Wyschywankas vor einer saftigen mit Mohn und Kornblumen übersäten Wiese. Drei Textilbahnen in den russischen Nationalfarben Weiß, Blau und Rot, darüber prangt der Slogan "Cherson Naweki s Rossijy" ("Cherson für immer mit Russland"). Dieses Propagandaposter war nur eines von vielen, die in Cherson von der russischen Besatzung auf Plakatflächen aufgeklebt wurden. Der Schönheitsfehler: Die ukrainische Fotografin Hanna Pasichnyk erkannte laut einem Bericht der BBC auf den Postern ihren Sohn mit seiner besten Freundin, die russischen Propagandisten hatten einfach das Foto der ukrainischen Fotografin "geborgt".

Nun sieht es so aus, als könnte aus dem "für immer" ein "für ein paar Monate mit Russland" werden - die russische Armee eroberte die strategisch wichtige Stadt am 2. März, nur sechs Tage nach der Eröffnung der Offensive am 24. Februar vollständig. Nun, acht Monate danach, scheinen die Vorbereitungen zum vollständigen Abzug der russischen Armee aus Cherson beinahe abgeschlossen.

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Wochenlang war über diesen Schritt spekuliert worden, nachdem sich die Versorgungslage der russischen Truppen in der Stadt, die vor dem Krieg 300.000 Einwohner zählte, seit Beginn der ukrainischen Gegenoffensive am 29. August stetig verschlechtert hatte. Zuletzt ordnete der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Mittwochnachmittag den offiziellen Rückzug der Kreml-Truppen vom Westufer des Dnjepr (Dnipro) an. Und der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte in der Ukraine, General Sergej Surowikin, erklärte in einer im Fernsehen übertragenen Rede: "Wir werden die Leben unserer Soldaten und die Kampfkraft unserer Einheiten sichern."

Kein Bild und Ton übrigens von Wladimir Putin - die Schmach sollen der Verteidigungsminister und die Generäle verantworten, in einer Geschichte der Niederlage möchte der russische Präsident nicht erwähnt werden. Dabei hat Putin vor nicht einmal sechs Wochen in einem Festsaal des Kreml, samt Gardesoldaten, Prunk und Glorie, Cherson und drei weitere Regionen der Ukraine zu russischem Territorium erklärt.

Putin reist erst gar nicht zum G20-Gipfel an

Seine Teilnahme am G20-Gipfel auf Bali hat der russische Präsident jedenfalls bereits abgesagt; er hätte befürchten müssen, dass ihm nicht wenige der dort versammelten Staats- und Regierungschefs aus dem Weg gehen oder zumindest unangenehme Fragen stellen würden. "Sieger sehen anders aus", hätte dann wohl die eine oder andere Bildunterschrift unter Putin-Fotos gelautet - dass Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Desaster ist, ist mittlerweile wohl auch seinen wenigen verbliebenen Verbündeten klar. Und das Vertrauen in den Mann im Kreml wird durch diesen Rückzug weiter erschüttert.

An Putins Stelle wird Außenminister Sergei Lawrow nach Indonesien reisen - und auch ihm wird nichts anderes übrig bleiben, als den Saal zu verlassen, wenn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Videobotschaft aus Kiew nach Bali zugeschaltet wird. Putin werde an einem der Gespräche virtuell teilnehmen, sagte Jodi Mahardi, ein Sprecher des Koordinators für maritime und Investitionsangelegenheiten.

Gleichzeitig wurde bekannt, dass US-Präsident Joe Biden und Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping kommende Woche auf Bali erstmals als Präsidenten aufeinandertreffen werden. China hat Russland zwar rhetorisch unterstützt und sich bei den Vereinten Nationen der Stimme enthalten, als es darum ging, den Angriffskrieg gegen die Ukraine vor der Weltgemeinschaft zu verurteilen, gleichzeitig bietet Peking aber Moskau keine materielle Unterstützung an. Für China sind die westlichen Märkte und Zugänge zu westlicher Technologie zu wichtig. Man kann auch davon ausgehen, dass die Beziehungen zwischen Peking und Moskau ein wichtiger Punkt in den Gesprächen zwischen dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und Xi vor einer Woche waren.

Wie geht es in der Ukraine militärisch weiter?

Doch wie entwickelt sich die militärische Lage um Cherson weiter? Die Streitkräfte werden sich wohl nun auf das Halten des Ostufers des Dnjepr konzentrieren - dort werden seit geraumer Zeit Grabensysteme und Befestigungsanlagen errichtet, die russischen Truppen wollen sich offenbar dort einigeln. Der Fluss, der in Cherson mehrere hundert Meter breit ist, ist eine für eine ukrainische Offensive nur äußert schwer zu überwindende Barriere und stellt daher eine mächtige natürliche Verteidigungslinie für die russischen Besatzer dar.

Die Ukraine wiederum traut dem russischen Rückzug nicht. Präsident Selenskyj hat bereits am Mittwochabend in seiner täglichen Videobotschaft erklärt, es herrsche nach der Ankündigung des Truppenabzugs aus Cherson zwar "viel Freude", "aber unsere Emotionen müssen zurückgehalten werden - gerade während des Krieges". Denn "der Feind macht uns keine Geschenke, macht keine Gesten des guten Willens". Das ukrainische Militär werde sich weiter "sehr vorsichtig, ohne Emotionen, ohne unnötiges Risiko" bewegen. Selenskyj warnte die Entscheider in Moskau davor, den Befehl zum Sprengen des Kachowka-Staudamms oberhalb von Cherson oder zur Beschädigung des Atomkraftwerk Saporischschja zu geben. "Dies würde bedeuten, dass sie der gesamten Welt den Krieg erklären."

Selenskyjs politischer Berater Mychajlo Podoljak schrieb auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: "RF (die Russische Föderation, Anm.) will Cherson in eine ‚Stadt des Todes‘ verwandeln. Das russische Militär vermint alles, was es kann: Wohnungen, Abwasserkanäle. Die Artillerie am linken Ufer plant, die Stadt in Ruinen zu verwandeln". Und: "So sieht die ‚russische Welt‘ aus: Man kam, raubte, feierte, tötete ‚Zeugen‘, hinterließ Ruinen und ging."

Auch der britische Geheimdienst erklärte im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums auf Twitter, dass die russischen Truppen Brücken zerstört und mutmaßlich auch Minen gelegt hätten, um die Rückeroberung der von Moskau aufgegebenen Stadt Cherson für die Ukraine zu erschweren. Der angekündigte Rückzug werde sich nach Einschätzung der britischen Nachrichtendienstmitarbeiter über mehrere Tage hinziehen und von Artilleriefeuer zum Schutz der abziehenden Einheiten begleitet werden. Insbesondere bei der Überquerung des Dnjepr seien die russischen Einheiten angesichts begrenzter Möglichkeiten verletzlich.

Ein Rückzug wäre eine der bisher schwersten Niederlagen

Der Verlust der Region werde Russland wahrscheinlich sein strategisches Ziel verwehren, eine russische Landbrücke bis zur Hafenstadt Odessa aufzubauen, halten die Briten fest. Ukrainische Angriffe auf die Nachschubrouten der Russen hätten deren Position in Cherson unhaltbar gemacht. Ein Rückzug wäre eine der bisher schwersten Niederlagen der russischen Streitkräfte in dem Krieg gegen die Ukraine.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg übte sich ebenfalls in Zurückhaltung. "Wir müssen jetzt sehen, wie sich die Lage vor Ort in den nächsten Tagen entwickelt", sagte der Norweger am Rande von Gesprächen mit der neuen italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni in Rom. Russland stehe jedenfalls schwer unter Druck. "Wenn sie Cherson verlassen, wäre das ein weiterer großer Erfolg für die Ukraine", fügte Stoltenberg hinzu.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnete den angekündigten Rückzug dagegen als einen positiven Schritt. Auf einer Pressekonferenz vor seiner Abreise zu einem Besuch in Usbekistan antwortete Erdogan damit auf eine Frage zu den Aussichten auf Gespräche zwischen Russland und der Ukraine. Eine diplomatische Lösung ist aber derzeit nicht in Griffweite.