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Ein Schauplatz für gute Bücher

Von Thomas Veser

Reflexionen

Von der kommunistischen Literaturkritik als Ort des sozialen Elends verdammt, ist die Hauptstadt Sofia heute der mit Abstand beliebteste Ereignisort in der bulgarischen Gegenwartsliteratur.


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Die einstige Pracht der bulgarischen Hauptstadt lässt sich nur noch erahnen.
© Veser

Wie Sofia gegen Ende des 19. Jahrhunderts aussah, hat der Tiroler Maler Josef Oberbauer in zahlreichen Gemälden festgehalten. Bescheidene Häuser prägten das Erscheinungsbild, die wenigsten Straßen und Plätze waren gepflastert, der Ort wirkte sehr ländlich. Nach einem halben Jahrtausend Osmanenherrschaft fiel die architektonische Bilanz bescheiden aus: Neben einigen größeren Gebäuden gab es ein paar Schulen, dreißig Moscheen, drei Synagogen und eine Handvoll Kirchen.

Als symbolträchtigstes Gotteshaus galt damals die Sophienkirche, eine schlichte Kreuzbasilika aus römischer Zeit, als der Ort noch Serdica hieß. Die Türken benannten Serdica in Sredez um und nutzten die Kirche erst als Moschee, dann als Warendepot. Durch ein Erdbeben beschädigt, lieferte die Backsteinkirche am 4. Januar 1878 eine würdige Kulisse für den Gottesdienst zu Ehren der Befreiungstruppen des russischen Generals Gurko.

Bis 1914 verwandelte ein beispielloser Bauboom Sofia in eine ansehnliche Hauptstadt, die von 300.000 Menschen bewohnt wurde. Österreichische Architekten, darunter Peter Paul Brang und Friedrich Grünanger, entwarfen nach dem Vorbild der Wiener Ringstraße elegante Wohn- und Geschäftshäuser und schufen neben etlichen Stadtpalästen das Fürstenschloss. Von Grünanger stammt der Entwurf für die gewaltige Zentralsynagoge nach dem Vorbild der Wiener Synagoge Leopoldstädter Tempel. Einheimische Nachwuchsarchitekten holten sich damals üblicherweise in Wien den letzten Schliff.

Die einstige Pracht lässt sich heute freilich nur noch erahnen: Alliierte Luftangriffe gegen Ende des Zweiten Weltkriegs haben das Architekturerbe größtenteils in Schutt und Asche verwandelt.

Rasanter Aufstieg

Der Aufstieg zum politischen und kulturellen Mittelpunkt des Balkanlandes hat auch in der bulgarischen Literatur deutliche Spuren hinterlassen. Standen Ende des 19. Jahrhunderts noch Dörfer und die kleinen Städte der Wiedergeburtszeit thematisch im Vordergrund, schälten sich bald die Umrisse der modernen Großstadt heraus, meist mit direkten Bezügen zu Sofia. Seit dem Ersten Weltkrieg dominiert die Hauptstadt als zentraler Ereignisort in der fiktionalen Topografie. Und spätestens seit den 1920er Jahren zeichnete sie sich in der Literatur durch ein scharfes Profil aus. Gleichzeitig erfreuten sich auch ländliche Themen unangefochten großer Popularität.

Zwei Schriftstellermonumente, auf einer Bank in Sofia vereint: Pentscho Slawejkow (links) und sein Vater Petko.
© Veser

Eng mit der auf Sofia bezogenen Zwischenkriegsliteratur verbunden sind die Namen Cavdar Mutafov, Svetoslav Minkov und Georgi Rajcev. Avantgardistische und expressionistische Stilelemente prägen die moderne Sprache ihrer Erzählungen, in denen die Großstadt - wie etwa in Mutafovs Werk "Der Dilettant" - bisweilen beunruhigend und gar dämonisch wirkt. Diese auch heute noch unterschätzte Strömung war bereits von der kommunistischen Literaturkritik zwischen 1950 und 1989 übergangen worden.

Unter den Vorzeichen des Sozialistischen Realismus erhält die Großstadt zunehmend ein negatives Image. Als Inbegriff des sozialen Elends verunglimpft, wird sie dem traditionellen Dorf mit seinen natürlichen, als "rein" betrachteten Sitten und Werten gegenübergestellt. Das zum Prototyp der "urbanen Kloake" erklärte Sofia wurde auf die reine Hauptstadtrolle reduziert.

Patriotische Verklärung

Bisweilen drückten die staatlichen Literaturwächter ein Auge zu. Etwa bei den damals beliebten historischen Romanen, wozu Stojan Sagortschinovs "Fest in Bojana" zählte. Er wählte als Kulisse die Bojana-Kirche am Stadtrand, die über und über verziert ist mit herrlichen Fresken, welche die künstlerischen Leistungen und die einstige Macht des zweiten bulgarischen Zarenreiches symbolisieren. Gegen diese Art der Verklärung Sofias aus patriotischen Gründen gab es keine staatlichen Einwände.

Stefan Ditschev gelang in den sechziger Jahren mit seinem Roman "Der Weg nach Sofia" ein Bestseller, dessen Handlung später von Bulgarien und der Sowjetunion fürs Fernsehen verfilmt wurde. Bei Ditschev stehen vor allem die Verhältnisse und Charaktere der Stadt zum Zeitpunkt der Befreiung im Vordergrund. Eindrücklich schildert er, wie die westlichen Botschafter dank ihrem Verhandlungsgeschick die besiegten Türken davon abhalten können, das ursprünglich vorgesehene Blutbad unter den Einwohnern anzurichten und den Ort dem Erdboden gleichzumachen.

Der Autor lässt die westlichen Protagonisten zwar in positivem Licht erstrahlen, beteuert jedoch in der Neuauflage, dass er lediglich die russischen "Bratuschki" (Brüderchen), denen er sich näher fühlt, "wahrhaftig und so wie sie sind" dargestellt habe. Ditschev liefert damit ein schönes Beispiel für die ausgeprägte Russophilie, die damals der Stimmungslage in Bulgarien entsprach.

Das Jahr 1989

Nach dem Umbruch 1989 setzte Sofias Aufstieg zum mit Abstand populärsten literarischen Ereignisort ein. Etwa bei Valentin Plamenov, der in seinen Erzählungen den Wandel eines volkstümlichen Wohnquartiers nahe dem Patriarch-Evtimii-Denkmal über einen längeren Zeitraum darstellt. Locker und unterhaltsam schildert er Anekdoten und Ereignisse aus dem Alltagsleben und porträtiert einzelne Persönlichkeiten des Quartiers. Seine Enttäuschung darüber, dass die Aufbruchsstimmung unter dem Motto "45 Jahre sind genug, uns gehört die Zeit" nur allzu schnell einer allgemeinen Ernüchterung wich, ist in diesem Werk deutlich zu spüren.

"Es geht wohl keinem mehr gold im Lande des Thrakergoldes", so umschreibt die Lyrikerin Mirela Ivanova mit Anspielung auf das Kulturerbe ironisch die Aussichtslosigkeit der Nachwendejahre. Auch ihr Ehemann Vladimir Zarev, einer der produktivsten Schriftsteller der Gegenwart, beschäftigt sich in seinem Werk "Verfall" mit jenen Jahren. Er schildert, wie man in Sofia lernen musste, mit Lebensmittelkarten, Stromausfall und abgestellten Heizungen zu überleben.

Frischen Wind in die Literaturszene brachte Vladislav Todorovs Thriller "Die Motte". In diesem packend geschriebenen "Roman noir" spielt ein vom Pech verfolgter Kleinkrimineller die Hauptrolle. Wegen eines Raubmords, den er gar nicht begangen hat, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, wird er nach seiner Entlassung von seinem damaligen Komplizen, der inzwischen zum Polizisten aufgestiegen ist und nun die Beute will, erbarmungslos durch das nächtliche Sofia der sechziger Jahre gejagt. "Bevor man mich einsperrte, lebte ich Ecke Niska- und Bregalnica-Strasse mitten im gefräßigen Bauch der Hauptstadt", lässt der Verfolgte in dieser an ironischen Anspielungen und Wortwitz reichen Erzählung den Leser einmal wissen.

Gleichfalls auf der Höhe der europäischen Erzählkunst bewegt sich Dimitar Korudciev. In seinem Roman "Bevor gestorben wird" schildert er sehr atmosphärisch das Leben und Sterben des legendären Zaubergeigers Saso Sladura, dem sein loses Mundwerk in einem kommunistischen Lager zum Verhängnis wurde. Während Einleitung und Epilog auf wahren Ereignissen beruhen, entstammt die übrige Handlung der Phantasie des Autors. "Saso schritt die Oboriste-Strasse entlang vom eingesunkenen Ameisenhaufen des Poduene-Arbeiterviertels auf die geheimnisvolle Silhouette der Nevski-Kathedrale." Mit solchen Szenen beschwört Korudciev das Sofia der Zwischenkriegszeit herauf, detailreich beschreibt er auch den heute als Kunstmuseum dienenden Zarenpalast, in dem der Musiker oft aufgetreten war.

Übersetzungen

Wohl hat die Zahl der Übersetzungen bulgarischer Werke in die deutsche Sprache seit einem Jahrzehnt spürbar zugenommen. Einige Verlage in Deutschland und Österreich publizieren ab und zu gemeinsam bulgarische Autoren. In der Schweiz bemüht sich der kürzlich gegründete Verlag Inkpress, die bulgarische Literatur bekannter zu machen. Andere haben sich dauerhaft auf einzelne Schriftsteller verlegt, allerdings fast nur im Bereich der Gegenwartsliteratur. Erschwerend kommt hinzu, dass die Werke von der Literaturkritik in der Regel kaum beachtet werden.

Voll etabliert hat sich immerhin der 1968 geborene Georgi Gospodinov, von dem mittlerweile vier Bücher auf Deutsch vorliegen. Seine experimentelle Kunst der Verzweiflung ist in ihrer Mischung aus Tragik, Komik und Groteske anschlussfähig in einer Zeit, da auch den Menschen im Westen mehr und mehr der Boden unter den Füßen wegzubrechen beginnt.

Thomas Veser, geboren 1957, lebt als Journalist in Konstanz.
Schwerpunkte: Kulturgeschichte, Denkmal- und Umweltschutz, Reisethemen.