Der ehemalige ungarische EU-Kommissar Balazs über Unterschiede im Umgang mit Flüchtlingen.
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"Wiener Zeitung":Grenzzäune in Europa, ein Abkommen mit der Türkei, Maßnahmen einzelner Regierungen: Der Plan zur Bewältigung der Flüchtlingskrise war ursprünglich ein anderer - Hotspots zur Registrierung von Asylwerbern in Griechenland und Italien, Umsiedlung auf die gesamte EU. Aber einige Staaten, vor allem osteuropäische, waren gegen eine Verteilungsquote. Ist eine europäische Lösung unmöglich?Peter Balazs: Schon jetzt steht in den EU-Verträgen, dass die Union eine gemeinsame Asylpolitik entwickeln sollte. Aber wir haben nationale Regelungen; jeder Staat entscheidet selbst, ob er Asyl gewährt. Die Last ist nun unregelmäßig verteilt: Es gibt die Ankunfts- und Transitländer und nur wenige Staaten, in die Flüchtlinge gelangen wollen. Nationale Lösungen werden uns allerdings nicht weiterhelfen. Wir wollen den Schengen-Raum ohne Passkontrollen innerhalb Europas retten und müssen daher die Außengrenzen sichern. Ebenso müssen die Dublin-Regeln zur Bearbeitung von Asylverfahren geändert werden.
Die ungarische Regierung sagt da etwas anderes. Sie möchte zwar nicht Schengen aufgeben, aber an Dublin will sie nicht rütteln: Weiterhin soll das Land der Einreise für die Asylverfahren zuständig sein. Es sei nämlich nicht das Problem Ungarns...
Es ist naiv zu glauben, dass sich Flüchtlinge davon abhalten lassen, weiterzureisen, weil sie sich im ersten Land registrieren müssen. Dennoch war es für die Gesellschaften, die auf einmal mit so vielen Ankommenden konfrontiert waren, ein Schock. Das betrifft auch Ungarn, während etwa Polen und Tschechien gar keine Flüchtlinge live erlebt haben. Doch die Länder, für die die Ankunft der Menschen Realität ist, sind gespalten: Es gibt jene, die helfen wollen, und jene, die das Problem loswerden möchten. Das ist in Ungarn wie in Deutschland oder Österreich der Fall. Die Regierungen haben sich entscheiden müssen, wie sie reagieren. In Berlin hat es geheißen: "Wir schaffen das." In Wien gab es eine Kehrtwende. In Budapest wurde eine ablehnende Haltung eingenommen.
Welche Haltung gefällt Ihnen besser?
Die helfende.
Applaus für die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist in Ungarn selten.
Politiker wollen Wahlen gewinnen, daher fällen sie politische Entscheidungen. Aber für Kanzlerin Merkel war es auch ein moralischer Entschluss. Premier Viktor Orban hingegen hat sich die Meinungsumfragen angesehen, festgestellt, dass die Menschen das Unbekannte, Massen von Fremden scheuen und hat eine unfreundliche Position eingenommen. Er hat zu den Bürgern gesagt: "Wir werden euch beschützen." Und wenn der Regierungschef das sagt, dann folgen die Minister dieser Linie, ebenso die Polizei und andere Behörden.
Wie hätten Sie reagiert, wären Sie noch in der Regierung?
Ich hätte vom ersten Tag an Alarm geschlagen. Ich hätte die Schengen-Partner darüber informiert, dass wir ein Problem an der Grenze haben - das betrifft ja auch die anderen Länder. Ich hätte um deren Hilfe gebeten.
Stattdessen wollen wir nun auf die Unterstützung der Türkei angewiesen sein, was besonders Deutschland ein Anliegen war. Reicht Ihre Sympathie für Merkel auch dafür?
Ja, es war die Kanzlerin, die verhandelt hat - im Interesse ihres Landes aber auch dem der EU. Sie hatte den Mut, über ihren politischen Schatten zu springen. Denn gerade ihre Partei war viele Jahre gegen eine Annäherung der Türkei an die EU. Ich bewundere ihre Kraft, trotzdem nach Istanbul zu fahren und Forderungen zu stellen. Denn sie war in der Position, etwas anzubieten: Verhandlungen über einen EU-Beitritt und über Visafreiheit.
Diese Position der Stärke kann sich aber schnell ändern. Es ist nun die Türkei, die Forderungen stellt. Zahlt die EU einen zu hohen Preis für das Flüchtlingsabkommen?
Wenn der Preis zu hoch wäre, dann würden wir ihn nicht zahlen. Es geht um einen Handel, es gibt eine Vereinbarung dazu, die von beiden Seiten geschlossen wurde. Die Türkei nutzt jetzt ihre geopolitische Position. Sie hat jahrelang auf normale Antworten geantwortet: Es hat ein Dutzend Jahre gedauert, bis ihr der Status einer EU-Beitrittskandidatin gewährt wurde, dann weitere sechs Jahre bis zum Beginn der Verhandlungen. Und wenn wir nun auf die Türkei angewiesen sind, dann ergreift diese die Chance, den Prozess zu beschleunigen.
Und Visafreiheit zu verlangen, auch wenn sie die Kriterien dafür nicht erfüllt hat?
Die Visaliberalisierung ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. Andernfalls sollte sie nicht gewährt werden. Da ist wiederum die EU in einer stärkeren Position. Die anderen Zusagen, wie Finanzhilfe für Flüchtlinge und Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen, sind nur fair.
Flüchtlingskrise, schwächelnde Wirtschaft, ein drohender Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union: Viel ist von einer Anhäufung von Krisen die Rede. Wie gehen wir damit um?
Es gibt einen großen Unterschied zwischen Migrationskrise und Brexit. Die britische Debatte ist eine Familienangelegenheit. Diese Diskussion führen die EU-Mitglieder untereinander. Wir sitzen beim Familienabendessen um den Tisch, und ein Sohn möchte aufstehen und sich entfernen.
Würde sein Weggang nicht die gesamte Familie erschüttern?
Es wäre keine Tragödie. Es ist ein Deal; es geht um Verhandlungen, unter welchen Bedingungen wir die Gemeinschaft zusammen halten wollen. Die EU hat große Erfahrungen im Umgang mit Familienangelegenheiten. Wir haben fantastische Techniken dafür entwickelt: leise Drohungen, verbunden mit einem Lächeln, finanzielle Zusagen, Nebenabsprachen. Wenn es trotzdem zu einem Brexit kommt, würde das die Atmosphäre zwar verändern. Aber dass die Briten ihr eigenes EU-Konzept haben, war jedem von Anfang an bekannt. Nur hat es bis vor kurzem keine offene Debatte darüber gegeben.
Zur Person
Peter Balazs
Der Ökonom und frühere Politiker ist Professor an der Zentraleuropäischen Universität in Budapest. Nach dem EU-Beitritt Ungarns 2004 war Balazs als EU-Kommissar für Regionalpolitik zuständig; später wurde er Außenminister. Das Amt hatte er 2009-2010 inne. Balazs war Gastredner beim Prager Europa-Gipfel.