Regelwerke tendieren dazu, ausgereizt zu werden.
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Die Regierung kündigt mehr Eigenverantwortung an - und erlässt ein mehrseitiges neues Regelwerk für die Bewegung im öffentlichen Raum. Das mag Kopfschütteln auslösen, hat aber dennoch eine gewisse Logik. Verbietet man so gut wie alle Bewegungen im öffentlichen Raum, geht das in wenigen Worten. Erlaubt man sie, will aber die Kontrolle über das epidemische Geschehen des Coronavirus nicht aus der Hand geben, braucht es präzise Regeln. Darum begibt sich die Regierung noch nicht auf die reine Appellebene, wie etwa in Schweden, sondern definiert weiter per Verordnung den Rahmen des Zulässigen und Erlaubten.
Das birgt in der Praxis aber zwei Schwierigkeiten: Erstens haben verordnete Regelwerke die Tendenz, ausgereizt zu werden. Das ist in der Gesetzgebung meist auch einkalkuliert. Erlaubt ist, was nicht verboten ist. Dagegen ist grundsätzlich nichts zu sagen, im konkreten Fall der Corona-Epidemie kann es aber auch sein, dass das Erlaubte wenig sinnvoll oder gar gefährlich ist. Denn erlaubt sind etwa auch größere private Gartenfeste. Auch wenn Veranstaltungen unter freiem Himmel ein geringeres Risiko bergen, könnte bei Menschenansammlungen das Virus von einem Träger an sehr viele andere weitergegeben werden. Genau das will man vermeiden.*
Die zweite Schwierigkeit: Regeln müssen kontrolliert und exekutiert werden können, sonst sind sie unsinnig. Dass hier die Behörden Gesetze streng auslegen, ist nicht erst seit Corona bekannt. Es gab bereits 30.000 Anzeigen aufgrund der Covid-Gesetze, darunter einige, die wahrlich unverhältnismäßig scheinen. Die Lockerungsverordnung enthält nun sehr viele Verpflichtungen, Begrenzungen und Abstandsvoraussetzungen. Aus Sicht der Epidemiekontrolle mag das alles richtig sein, doch es muss auch praktikabel sein.
Wird jetzt bestraft, wem auf dem Markt die Maske verrutscht? Oder wer in der U-Bahn nicht den Ein-Meter-Abstand wahrt, obwohl dies aus Sicht des Kontrollorgans möglich gewesen wäre? Wenn es mehr Regeln gibt, kann man auch gegen mehr verstoßen, und zwar nicht nur mutwillig, sondern weil Fehler passieren oder sich manche Situationen nicht vermeiden lassen. Wer sich im Park mit neun Freunden trifft, darf dies tun - ein zufällig vorbeispazierender zehnter Freund müsste aber zum Weitergehen aufgefordert werden. Es könnte zu wahrlich kafkaesken Situationen kommen.
Aber, zugegeben, der Weg von praktisch null Eigenverantwortung durch eine Defacto-Ausgangssperre wie bisher hin zu echter Eigenverantwortung ist nicht so einfach.
* In erster Version wurde die Verordnung dahingehend interpretiert, dass private Veranstaltungen auf privatem Grundstück nur von der 10-Personen-Grenze ausgenommen sind (Absatz 1), nicht aber von anderen Beschränkungen, die in anderen Absätzen geregelt sind. Allerdings finden auch diese keine Anwendung, auch wenn dies nicht explizit angeführt wird. Das teilte das Gesundheitsministerium mit.