)
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 22 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die 82 Prozent, mit denen Jacques Chirac Sonntag im zweiten Wahlgang als französischer Staatspräsident für eine weitere Amtszeit gewählt wurde, sind in erster Linie ein Sieg für Frankreich. Dass Chirac seinen Stimmenanteil von knapp unter 20 Prozent am 21. April innerhalb von zwei Wochen um mehr als 62 Prozent steigern konnte, ist sicherlich nicht sein persönliches Verdienst, sondern nur aus dem Schock zu erklären, in dem sich Frankreich nach dem ersten Wahlabend befand, als der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen den amtierenden Premierminister Lionel Jospin mit einem knappen Vorsprung von nur rund 200.000 Stimmen aus dem Rennen gekippt hatte. Bis auf seinen Ex-Verbündeten Bruno Megret und die Trotzkistin Arlette Laguiller, die fast 6 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt hatte, hatten alle ausgeschiedenen Kandidaten des ersten Wahlgangs eine klare Wahlempfehlung gegen Le Pen abgegeben - Laguiller empfahl, weisse Stimmzettel in die Wahlurnen zu werfen. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, wo Rechtspopulisten und Rechtsextreme in der Zwischenzeit Regierungsämter innehaben, haben sich die bürgerlichen Rechtsparteien in Frankreich bisher eindeutig gegen Le Pen und seine Front National abgegrenzt.
Es ist Le Pen nicht gelungen, das Reservoir der Rechtsextremen aus dem ersten Wahlgang - immerhin erreichten er und Bruno Megret damals nahezu 20 Prozent - voll auszuschöpfen. Ursache dafür ist nicht bloß die in zwei Wochen um 8 Prozent gestiegene Wahlbeteiligung. Le Pen hat am Sonntag nicht einmal zahlenmäßig so viele Stimmen bekommen, wie Megret und er am 21. April gemeinsam. Im Elsass etwa, büßte er sogar 2 Prozent ein.
Erste Wählerstromanalysen des französischen Fernsehens am Wahlabend zeigten, dass Le Pen nur 80 Prozent seiner Wähler vom 21. April auch am 5. Mai für sich gewinnen konnte. Ein Zehntel seiner Wählerschaft lief direkt zu Chirac über, ein weiteres Zehntel verabschiedete sich zu den Nicht- bzw. Ungültigwählern. Mehr als 1,76 Millionen von 32,65 Millionen Wählern gaben weisse Stimmzettel ab. Der überwiegende Teil der Linkswähler aus dem ersten Wahlgang stimmte Sonntag für Chirac - laut Wahlanalysen zwischen 80 und 90 Prozent der Sozialisten und Grünen und jeweils drei Viertel der Kommunisten und Trotzkisten. Ihnen ist es wohl so ergangen wie vor 70 Jahren den Wählern aus Sozialdemokratie und Zentrum, die sich in der Präsidentenstichwahl zwischen Hindenburg und Hitler entscheiden mussten. Das Beispiel des südfranzösischen Dorfes Villemagne, wo der sozialistische Bürgermeister die Wähler nach der Stimmabgabe "desinfiszieren" ließ, nachdem diese zuvor mit Wäscheklammern auf den Nasen und Gummihandschuhen ihre Stimme für den ungeliebten Amtsinhaber abgegeben hatten, spricht Bände.
Führende SP-Politiker sehen aufgrund der besonderen Umstände in dem plebiszitären Ergebnis für Chirac deshalb auch keinen Auftrag für ein Programm, sondern zählen auf die im Juni stattfindenden Parlamentswahlen, bei denen eine linke Mehrheit wieder durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Chirac betonte Sonntag, er habe die Wähler gehört und verstanden. Dass er Montag den Rechtsliberalen Jean-Pierre Raffarin zum neuen Premier bestellt hat und nicht seinen noch in der Vorwoche favorisierten Parteikollegen Nicolas Sarkozy, könnte ein Zeichen dafür sein.