Zum Hauptinhalt springen

"Ein so großer Unfug, da antworte ich nicht"

Von Thomas Seifert und Walter Hämmerle

Politik

Sarrazin sieht den Euro weiter in Gefahr und Deutschland am Abstieg.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wiener Zeitung": Herr Sarrazin, könnten Sie folgenden Halbsatz vervollständigen: "Denk ich an Deutschland in der Nacht..."

Thilo Sarrazin: "...dann bin ich um den Schlaf gebracht." Da fällt mir natürlich Heinrich Heine ein, das ist das berühmteste Zitat aus den "Nachtgedanken".

Und? Werden Sie?

Was genau?

Na um den Schlaf gebracht?

Im Moment erleben Sie mich ein wenig mies gelaunt. Ich las gerade in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über die in meinem Heimatbundesland Berlin geplante Reform der Lehrerausbildung. Da gibt es künftig den Einheitslehrer - von der Grundschule bis zum Gymnasium. Die sollen auch gleiches Gehalt bekommen. Im Interesse einer fehlgeleiteten Gleichheitsideologie wird da eine gezielte Volksverdummung eingeleitet. Wenn nicht alle wirklich gut Mathe können, wenn nicht alle richtig gut Französisch können, dann soll es in Zukunft eben keiner mehr können. Das wird aber zu einer Zweiklassengesellschaft führen: Wer es sich leisten kann, schickt die Kinder eben auf die Privatschule.

Ist das nicht zu kulturpessimistisch?

Ich bin kein Kulturpessimist.

Was Sie sicherlich sind: ein bekennender Sozialdemokrat, auch wenn Ihre Partei nicht immer ganz glücklich damit ist. Die Sozialdemokratie war immer eine Bewegung, die optimistisch in die Zukunft geblickt hat, eine Partei der Moderne und des Fortschritts.

Bei Ihnen geht jetzt so ziemlich alles durcheinander. Sie setzen modern, optimistisch und fortschrittlich gleich und setzen das in einen impliziten Gegensatz zu unmodern, rückschrittlich, pessimistisch und konservativ. Und das ist als gedanklicher Ansatz ein so großer Unfug, da antworte ich nicht darauf.

Das war gar nicht die Absicht, aber versuchen wir es anders: Wie charakterisieren Sie sich selbst?

Ich bin ein kritischer Rationalist ganz im Sinne des großen gebürtigen Österreichers Karl Popper.

Wir sind hier in Wien, das ist bekanntermaßen das Versuchslabor für den Weltuntergang. Sie wären doch ein perfekter Wiener im Sinne von Karl Kraus: Der perfekte Wiener grantelt gerne, blickt sorgenvoll in die Zukunft und sieht den Untergang des Abendlandes unmittelbar bevorstehen. Und dennoch: Österreich gehört zu den reichsten Ländern der Welt mit einem an Leistungen beispiellosen Sozialstaat.

Historisch gesehen sind die Völker, die pessimistisch und selbstkritisch sind, meist die wesentlich erfolgreicheren. Die Landstriche mit dem höchsten Sozialprodukt und der größten Innovationskraft haben regelmäßig das schlechteste Wetter und die höchste Selbstmordrate. Nehmen Sie Schwaben, sicherlich eine Hochburg der technischen Innovation, nehmen sie das Bergische Land - dort ist es immer kalt und neblig. In beiden Landstrichen neigen Menschen zur Depression, sind pessimistisch, sind aber ungeheuer innovativ.

In Europa ist das doch so: Je sonniger das Gemüt, umso schrecklicher ist es um die Wirtschaft bestellt. Nur derjenige, der kritisch, vor allem selbstkritisch ist, ist wirklich gut. Deshalb ist auch die deutsche Autoindustrie an der Spitze. Das können Sie an Ferdinand Karl Piëch sehen - er ist ja ein Österreicher -, der mit gnadenloser Kritik an guten Produkten Volkswagen und Audi nach oben gebracht hat. In dem Moment, wo man voller Zufriedenheit sagt: "Jetzt ist es gut", genau in diesem Moment liegt bereits der Keim des Niedergangs.

Aber laufen Sie da nicht Gefahr, dass die Bürger sagen, jetzt kommt schon wieder dieser Sarrazin mit seinem ewig bräsigen Miesepetertum. Die Menschen hören Ihnen ja gar nicht mehr zu.

Doch, das tun sie. Bräsig passt übrigens überhaupt nicht, Miesepeter bin ich auch keiner. Das, was ich tue, kommt ja auch nicht als Nörgeln rüber. Diejenigen, die sich in ihrer selbstgefälligen Selbstzufriedenheit gestört sehen, reagieren regelmäßig aggressiv, weil sie getroffen sind und inhaltlich keine Antworten parat haben. Die anderen reagieren befreit, weil endlich einmal jemand die Dinge aufs Tapet bringt und offen ausspricht.

Zurück zu Ihrer politischen Gesinnung: Was ist konkret sozialdemokratisch an Ihnen?

Das ist eine völlig irrelevante Frage, aber ich kann Sie gerne beantworten. Ich bin für einen starken Staat, der gute Rahmenbedingungen setzt, ich bin für soziale Gerechtigkeit, für ein gewisses Maß an Umverteilung und für gleiche Chancen. Vor allem aber für eine Leistungsgesellschaft. Und genau das war auch das Bild der Sozialdemokratie in den sechziger und siebziger Jahren.

Und heute?

Heute sehen wir in unserer Gesellschaft eine Tendenz der Schönfärberei und eines - es ist keine Verweichlichung - Weichmachertums. Das ist eine Tendenz, bei der praktische Gegensätze verschleiert, Alternativen nicht gesehen, und unangenehme Entscheidungen gescheut werden. Dieser Trend überwölbt eigentlich alle großen politischen Richtungen. Da sind die großen Parteien einander viel ähnlicher, als man glaubt. Die Parteien überlappen sich in ihren Meinungsspektrum doch heute mit 80 Prozent. Kantige Figuren wie Bruno Kreisky oder Franz Josef Strauß hätten im heutigen politischen System kaum mehr eine Chance.

Die Generation Praktikum sieht die Dinge anders: Diese meinen, wenig von einer Weichmachergesellschaft zu spüren, sondern sehen sich einem harten Konkurrenzkampf ausgesetzt.

Der Konkurrenzdruck kommt aber erst nach dem Bildungssystem, er kommt also zu spät. Probleme haben die vielen Hunderttausend, die Fächer studieren, die keiner wirklich braucht und die alle unterschiedslos die Note Eins bekommen.

Sie haben am Mittwoch eine Veranstaltung mit FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache zum Thema Euro- und Demokratiekrise absolviert. Hatten Sie die Gelegenheit, sich mit ihm auszutauschen? Was denken Sie über seine politischen Vorstellungen?

Wir haben miteinander geplaudert, aber nicht über Inhalte. Im Übrigen halte ich mich als Ausländer aus der österreichischen Innenpolitik heraus.

Dann zu Deutschland: Aller Voraussicht nach bleibt Angela Merkel Kanzlerin, wenngleich noch offen ist, in welcher Koalitionskonstellation. Was bedeutet das für die weitere deutsche und europäische Entwicklung?

Frau Merkel ist eine hochintelligente Frau, man merkt, dass sie, die ausgebildete Physikerin ist, sehr genau denken kann, sie hat ja auch in der DDR eine Auszeichnung bei der sogenannten Mathematik-Olympiade gewonnen und ist auch Preisträgerin in Russisch. Merkel macht extrem wenig Fehler in der Kommunikation, weil sie sich in jedem Moment unter Kontrolle hat. Das alles macht sie kompetent. Ich stehe zwar ihrer Politik in manchen Bereichen sehr kritisch gegenüber, aber dies vor allem deshalb, weil ich keine inhaltliche Konzeption erkennen kann. Die Kanzlerin setzt ihre nicht unbeträchtlichen Fähigkeiten vor allem zu dem Zweck ein, von einem Tag auf den anderen durchzukommen und an der Macht zu bleiben.

Sie sagen, die Einführung des Euro sei für Frankreich der Versuch gewesen, Deutschland im Zaum zu halten. Nun wird Deutschland vorgeworfen, dass es sein Modell dem Rest Europas aufdrängt. Was stimmt denn nun: Soll der Euro Deutschland zähmen oder nutzt Deutschland den Euro zur Vorherrschaft?

Die Franzosen begingen den Irrtum zu glauben, dass eine starke Währung allen nutzt. Das ist falsch, eine starke Währung hilft nur dem, der auch über eine starke Wirtschaft verfügt. Die Ausdehnung der D-Mark auf die heutige Eurozone, und nichts anderes ist ja der Euro, schafft für Länder Probleme, die daran gewöhnt waren, ihre mangelnde Wettbewerbsfähigkeit mit höherer Inflation und Abwertungen auszugleichen. Innerhalb des Systems lässt sich das nur ändern, wenn die Schwachen sich so anstrengen, dass sie mit den Starken mithalten können.

Dass der Euro bei der Einführung Konstruktionsmängel aufwies, ist heute unbestritten. Nun wird versucht, das zu reparieren. Ist es für Sie ausgeschlossen, dass all diese Rettungsversuche für die gemeinsame Währung am Ende nicht doch funktionieren?

Ich gebe keine Prognose ab. Was wir erleben, ist eine gigantische ökonomische Wette: Dass es nämlich den Südländern - und hier schließe ich immer auch Frankreich mit ein - gelingt, durch interne Strukturreformen ihre Defizite zu beheben und wirtschaftlich mit den starken Staaten mitzuhalten. Dann würden diese Nationen allerdings in ihrem wirtschaftlichen Verhalten aufhören, Spanier, Franzosen, Italiener oder Griechen zu sein - und das halte ich für relativ unwahrscheinlich.

Eine völlige Gleichheit ist doch gar nicht notwendig, in Deutschland gibt es genauso rückständige Regionen wie in Österreich, Bayern war nach 1945 hoffnungslos hinten nach, heute ist es eine der wohlhabendsten Regionen...

Das stimmt, aber den Bayern ist das aus eigener Kraft gelungen, da gab es keine Transfers.

Die wirtschaftlichen Unterschiede sind doch im Währungsraum China oder USA sehr viel größer ...

Das stimmt. Entscheidend ist, dass es keinerlei Belege gibt, dass sich durch eine gemeinsame Währung die vorhandenen Unterschiede ausgleichen. Dieser Tatsache müssen sich die Partner im gemeinsamen Währungsraum stellen, die jetzt Probleme haben - und darauf Antworten finden. In den USA lautet diese, dass Löhne und Gehälter in Tennessee wesentlich niedriger sind als im Silicon Valley, doch eine solche Antwort wollen Italiener, Griechen und Spanier wohl kaum akzeptieren. Die wollen österreichische oder deutsche Löhne haben, das jedoch gibt die Wirtschaft nicht her. Genau das ist das Problem; und hinzu kommen die kulturellen und sprachlichen Unterschiede in Europa, die verhindern, dass es einen wirklich gemeinsamen Arbeitsmarkt gibt.

Obwohl Sie Prognosen ablehnen: Wie wird die Wahl in Deutschland ausgehen?

Ich würde wetten, dass die "Alternative für Deutschland" über die Fünf-Prozent-Hürde kommt, und dass Union und FDP keine Mehrheit schaffen; es wird also wohl zu einer großen Koalition in Berlin kommen.

Thilo Sarrazin (geb. 12.2.1945 in Gera) war bis zum Jahr 2010 Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank, davor war er Finanzsenator in Berlin und in leitender Position bei der Deutschen Bahn AG.

Sarrazin provozierte im Jahr 2010 mit seinem Bestseller "Deutschland schafft sich ab", eine hitzige Debatte. Geburtenrückgang, eine wachsende Unterschicht und Zuwanderung aus überwiegend islamisch geprägten Ländern würden zu einem Niedergang Deutschlands führen. Es wurde ein Parteiausschlussverfahren aus der SPD angestrengt, das scheiterte. 2012 erschien sein Bestseller "Europa braucht den Euro nicht". Sarrazin war in Wien Gast des Liberalen Klubs und des Freiheitlichen Bildungsinstituts.