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Ein Sonderweg gelangt an sein Ende

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Brüssel mit Sonderwünschen aus Bern unzufrieden. | EU-Beitritt weiterhin nicht realistisch. | Debatte über Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum. | Bern/Zürich/Wien. Ein wehrhaftes Volk, allzeit zur Verteidigung des Landes, der Demokratie und des Franken bereit - das ist ein Bild, an dem viele Schweizer Gefallen finden. Und einmal mehr gezeichnet wird es in der aktuellen europapolitischen Debatte.


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Brüssel nämlich möchte das Verhältnis des Alpenlandes zur EU überdacht sehen. Vor allem dringt es darauf, dass die Schweiz künftiges EU-Recht automatisch übernimmt; Sonderwünsche sind nicht mehr gefragt. Doch darin ortet die Eidgenossenschaft einen Eingriff in die Souveränität. Dies ist auch einer der Gründe, warum ein Beitritt zur Union bisher immer abgelehnt wurde.

Aus Sicht vieler Schweizer braucht die Beziehung ihres Landes zur EU gar nicht enger zu werden. Mit der Gemeinschaft ist das Land durch mehr als hundert bilaterale Verträge verbunden. Doch es stehen neue Abkommen an, etwa zu Regelungen für den Strommarkt oder in der Landwirtschaft. Dabei, findet die Union, könne die Schweiz nicht mehr selbst entscheiden, ob sie das EU-Recht übernehme oder nicht. Sie müsse es tun.

Vier Optionen mit Haken

Eine Arbeitsgruppe soll nun bis Jahresende Vorschläge für die künftige Partnerschaft liefern. Der Bundesrat, die Schweizer Regierung, will noch im Herbst einen neuen Europa-Bericht beraten.

Für das weitere Vorgehen seines Landes sieht Klaus Armingeon, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Bern, vier Optionen. Und alle haben einen Haken. "Blauäugige Konservative sagen: Wir machen das im Alleingang", erklärt er. Doch das werde nicht funktionieren, weil die Schweiz auch wirtschaftlich eng mit der EU verbunden sei.

Die Forsetzung des bilateralen Weges sei ebenso problematisch, weil die Verhandlungen mit 27 EU-Staaten zunehmend schwieriger werden. Andererseits seien die Hoffnungen, dass sich die Union selbst desintegriert und zu einem lockeren Staatenbund wird - was die Gespräche mit Nichtmitgliedern vereinfachen würde - "Sommerträume einiger Schweizer Politiker", sagt Armingeon.

Die vierte Möglichkeit schließlich, ein EU-Beitritt, sei politisch nicht realistisch - weil sich weder die Mehrheit der Bürger noch die Mehrheit der Kantone dafür aussprechen würde. "Große Lösungen sind im Moment nicht greifbar", meint der Politologe und konstatiert Ratlosigkeit in der Schweiz.

Europapolitische Denkverbote gar ortet der Think tank Avenir Suisse, dessen jüngste Publikation "Souveränität im Härtetest" eine breite Diskussion entfacht hat. Der bilaterale Weg habe sich zwar als Erfolg erwiesen, doch er könnte bald in einer Sackgasse enden, ist der Tenor der Untersuchung. Eine vorausschauende Europapolitik sei daher notwendig. Außerdem wurde seit der Ablehnung eines Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Jahr 1992 kaum über Alternativen nachgedacht.

Neue Dynamik

Doch nicht zuletzt wegen des Drucks aus Brüssel sei neue Dynamik in die Debatte gekommen, findet Katja Gentinetta, Vizedirektorin von Avenir Suisse. "Wichtig ist nun, dass wir nicht in die alten Lager zurückfallen: in Befürworter und Gegner eines EU-Beitritts." Vielmehr seien auch andere Optionen zu prüfen. Ein Modell, das realistisch wäre, sei etwa eine Mitgliedschaft beim EWR.

Dieser dehnt den Europäischen Binnenmarkt auf die Nicht-EU-Mitglieder Island, Norwegen und Liechtenstein aus. Vorteile eines EWR-Beitritts: "Wir müssten nicht über die Änderung der Währung sprechen, und auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer wäre kein Thema. Wir könnten aber weiterhin als Mitglied der EFTA (Europäische Freihandelsassoziation) weltweit Freihandelsverträge abschließen, was für die global ausgerichtete Wirtschaft der Schweiz von großer Bedeutung ist. Innerhalb der EU wäre dies so nicht mehr möglich", erläutert Katja Gentinetta.

Eine "EWR light"-Version wiederum wäre für Robert Zäch vorstellbar. Der emeritierte Professor für Wirtschafts- und Europarecht an der Universität Zürich macht zwar keinen Hehl daraus, dass er selbst einen EU-Beitritt annehmen würde. Doch wegen der Mehrheitsverhältnisse sieht er die Option als realistischer an, in der die Schweiz wie ein EWR-Mitglied sich bei den Verhandlungen mit der EU mit Vorschlägen einbringen kann, aber nicht überall mitstimmen darf.

"Unser Wirtschaftsraum ist Zentraleuropa, und wir liegen in der Mitte davon", sagt Zäch. "Vor 150 Jahren waren wir noch nicht derart mit unserem Umfeld und der Welt wirtschaftlich vernetzt. Doch die Verhältnisse ändern sich, und denen müssen wir uns anpassen."

So werde auch bei der Debatte um die Souveränität vergessen, dass diese sich durch die Umsetzung des EU-Rechts schon jetzt geändert habe. Dabei würde Mitbestimmung keinen Verlust bedeuten. Wenn es allerdings um die Souveränität des Volkes geht, räumt Zäch ein, wäre ein EU-Beitritt eine Einschränkung, weil das Volk nicht mehr bei Abstimmungen über gewisse Vorhaben mitentscheiden dürfte.

Riskante Änderungen

Genau da setzt etwa die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) mit ihrer Kritik an. SVP-Chefstratege Christoph Blocher kündigte bereits an, einen "Kolonialvertrag" wie mit dem EWR bekämpfen zu wollen. Und während die Linksparteien wie auf verlorenem Posten einen Beitritt zur Europäischen Union propagieren, sind die bürgerlichen Mitte-Parteien wie die Christlichdemokratische Volkspartei in einer unbequemen Situation. Jahrelang haben sie den bilateralen Weg verteidigt. Auf dem tauchen nun aber immer mehr Hürden auf.

Daher forderte Bundespräsidentin Doris Leuthard vor wenigen Tagen in ihrer Ansprache zum Nationalfeiertag, dass jetzt die Debatte "über die fernere Zukunft der Schweiz" beginnen müsse. Dennoch sind radikale Änderungen in der Europapolitik der Parteien riskant - finden doch im kommenden Jahr Parlamentswahlen statt.

Nicht-Mitglied mit engen Verbindungen zur EU

(czar) Seit dem Inkraft-Treten des Lissaboner Vertrags, der auch die Außenpolitik der EU neu regelt, muss sich die Schweiz auf neue Ansprechpartner in der Union einstellen. Hatte das Land noch bis voriges Jahr vor allem mit der Generaldirektion Außenbeziehungen der EU-Kommission und den Staaten, die jeweils den EU-Vorsitz hatten, zu tun, ist nun in erster Linie der Europäische Auswärtige Dienst für die Beziehungen zur Schweiz zuständig.

Auch das EU-Parlament, das mehr Mitspracherechte erhalten hat, kann seinen Einfluss geltend machen. Und wie die EU-Kommission wünscht es sich eine stärkere Integration der Schweiz.

Deren Beziehungen mit der Union sind durch etwa 120 bilaterale Abkommen geregelt, die seit 1957 geschlossen wurden. Sie umfassen wirtschaftliche Interessen ebenso wie die Zusammenarbeit bei innerer Sicherheit, Asyl, Umwelt oder Kultur. Der Freihandelsvertrag mit der damaligen Europäischen Gemeinschaft stammt aus dem Jahr 1972.

Schengen-Raum und Personenfreizügigkeit

Seit Ende 2008 ist die Schweiz Mitglied des Schengen-Raums, in dem systematische Personenkontrollen an den Grenzen entfallen. Und im Vorjahr haben die Schweizer mehrheitlich für die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf die jüngsten EU-Länder Bulgarien und Rumänien gestimmt.

Von einer Mitgliedschaft in der Union war allerdings nur selten die Rede. Zwar hinterlegte der Schweizer Bundesrat im Mai 1992 offiziell in Brüssel ein Beitrittsgesuch. Doch seit der Ablehnung einer Mitgliedschaft beim Europäischen Wirtschaftsraum im Dezember 1992 hat keine der beiden Seiten den Antrag weiter verfolgt.

2001 versuchte die Eidgenössische Volksinitiative "Ja zu Europa" die sofortige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen durchzusetzen. Doch bei einem Referendum dazu unterstützte nicht einmal jeder vierte Schweizer das Vorhaben.

Der bilaterale Weg bringt der Schweiz aber auch finanzielle Verpflichtungen. Die Beteiligung an EU-Programmen kostet das Land jährlich mehrere Millionen Euro. Hinzu kommt der Osthilfe-Beitrag der Schweiz für die finanzschwächeren EU-Mitglieder in Höhe von einer knappen Milliarde Euro für die Jahre 2007 bis 2012.