"Mir wern kan Richter brauchen" - der Satz gilt gemeinhin als paradigmatische Verkörperung österreichischen Lebensgefühls mit seinem Hang zu Improvisation, Pragmatismus und Scheu vor klaren Regeln.
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In der Politik hat sich daraus in den letzten Jahrzehnten das Prinzip des "anything goes", des alles geht, entwickelt, das in einer bemerkenswert zurückhaltenden Rücktrittskultur bei Fehlverhalten mündete.
Dagegen wollen die Parteien nun mit neuen Regeln vorgehen, jedoch mit völlig unterschiedlichen Zugängen. Die beiden Pole bilden Volkspartei und Grüne: Während die Ökopartei politisch argumentiert und auf die Möglichkeit pocht, einen als untragbar empfundenen Politiker per Mehrheitsvotum abzuberufen, hat sich die ÖVP für einen auf das Strafrechtliche beschränkten Zugang entschieden. Nur nach einem Richtervotum und bei entsprechend schweren Gesetzesverstößen soll es politische Konsequenzen geben.
Martin Graf, der Stein des Anstoßes, hat, zumindest nach derzeitigem Wissensstand, jedoch gegen kein Gesetz verstoßen. Stattdessen bereitet es ihm eine gewisse Lust, die Grenzen des politisch Akzeptablen nach ganz weit rechts auszuloten. Ist so ein Politiker als Dritter Nationalratspräsident tragbar? Und wer hat über diese Frage zu befinden?
Was einer denkt und wie er sich den Gesetzen gegenüber verhält, sind Fragen, die jeder für sich entscheidet. Welche Personen eine Partei für eine Wahl nominiert, geht nur sie etwas an. Und es ist schließlich Sache der Bürger, für oder gegen eine Partei und deren Kandidaten zu stimmen.
Das Parlament soll, so heißt es in diversen Sonntagsreden doch immer, Spiegel unserer Gesellschaft sein - bei Geschlecht, Beruf und sonstigem sozialen Hintergrund.
Warum sollte etwas, was im Guten gilt, nicht auch im Schlechten zutreffen? Martin Graf ist ein typisch österreichisches Phänomen, die Wahrheit beziehungsweise das Wahlergebnis ist allen zumutbar. Der Nationalrat hatte die Möglichkeit, gegen Graf zu stimmen. Er hat es nicht getan.
Siehe auch:Die ÖVP will einen Richter brauchen