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Ein Staat ohne Hymne und Hoffnung

Von WZ-Korrespondent Christian Wehrschütz

Europaarchiv

EU-Annäherung ist vor allem Anliegen der muslimischen Bevölkerung. | Reformgespräche in der Sackgasse. | Sarajevo. Seit dem Ende des Bosnien-Krieges vor mehr als 13 Jahren und der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Dayton leidet der Staat Bosnien und Herzegowina (BiH) unter zwei Grundproblemen, die eng miteinander verbunden sind: erstens wurde in Dayton ein Gebilde geschaffen, der ein bürokratisches Monstrum darstellt:


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Er besteht zunächst aus zwei Entitäten, der zentralistisch aufgebauten serbischen Teilrepublik (RS) und der bosnisch-kroatischen Föderation (FBiH) und dem eigenständigen Distrikt Brcko. Hinzu kommen jedoch in der Föderation noch 10 Kantone mit einer Regierung von jeweils etwa 20 Ministern, einem gesamtstaatlichen Präsidium aus den Vertretern aller drei konstitutiven Völker, und natürlich hat auch noch die RS einen eigenen Präsidenten. "Garniert" ist all das mit entsprechenden bürokratischen Blockademöglichkeiten, damit es praktisch unmöglich ist, eine Volksgruppe zu überstimmen.

Zweitens fehlt den drei konstitutiven Völkern bisher jeder nennenswerte Ansatz eines gesamtstaatlichen Bewusstseins, der sich wenigstens als Verfassungspatriotismus definieren ließe. So feiern den 1. März als Staatsfeiertag nur die Bosniaken, denn er erinnert an das Unabhängigkeitsreferendum im Jahre 1992, das von den Serben boykottiert wurde. Der Staat hat noch immer keinen Text für seine Hymne, die RS hat ihre eigene Hymne, die eigentlich die Serbiens ist, und jüngst hat das Parlament der RS auch noch Banja Luka anstelle von Sarajewo zur Hauptstadt erklärt. Diese Spaltung zeigt jedes Fußballspiel, wobei die Bosniaken bei der EM in Österreich im Spiel Türkei gegen Kroatien für die Türken hielten, was in der geteilten Stadt Mostar denn auch zu Ausschreitungen führten.

Die internationale Gemeinschaft und mit ihr an der Spitze ihr Beauftragter mit seinem OHR (Office oft he High Representative), das im Jänner noch 220 Mitarbeiter zählte, versuchten aus BiH ein Staatswesen zu formen, das irgendwann reif für die EU sein sollte. Daher war man bestrebt, gesamtstaatliche Strukturen zu stärken und die Rechte der zwei Entitäten, vor allem der RS, zu beschneiden. Gelungen ist das bei den Streitkräften; so gibt es einen gesamtstaatlichen Verteidigungsminister, der zwar nicht so heißen darf, während es weder einen gesamtstaatlichen Landwirtschaftsminister noch ein Innenministerium gibt.

Trotzdem konnte die nun EU-geführte Friedenstruppe mittlerweile auf etwa 2000 Soldaten reduziert werden, es verbesserte sich insgesamt die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal und schließlich konnte im Vorjahr auch das Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen (SAA) mit der EU unterzeichnet werden.

Gespräche stocken

Doch zu einer erhofften Beschleunigung der Reformen kam es nicht, obwohl im November 2008 der sogenannte Prud-Prozess wirklich Hoffnungen weckte. In diesem Dorf trafen sich drei führende Politiker der Serben (Milorad Dodik), Bosniaken (Sulejman Tihic) und der Kroaten (Dragan Covic), die sich auf die Grundzüge einer Staatsreform einigten. Dazu zählt auch eine Volkszählung, die bisher nicht zustande kam, um nicht die massiven Folgen des Krieges auf die Bevölkerungsstruktur transparent zu machen (z.B.: Halbierung der Kroaten von 800.000 auf 400.000). Diese Reformgespräche gerieten Ende Februar in die Sackgasse, als Dodik bei einem Treffen mit Tihic und Covic in Mostar forderte, in die Verfassung auch das Recht der RS auf ein Unabhängigkeitsreferendum einzubauen. Das würde praktisch der Auflösung des Staates gleichkommen. Diese Forderung Dodiks wurde als Reaktion auf die gegen ihn zuvor eingereichte Strafanzeige wegen Finanzmachenschaften und Amtsmissbrauches interpretiert. Dem Regierungschef der RS wird angelastet, enorme Finanzmittel unter anderem für die Errichtung eines neuen Regierungsgebäudes in Banja Luka gesetzwidrig verwendet zu haben und dadurch dem Budget der kleineren Entität einen Schaden in Höhe von 72,5 Mio. Euro zugefügt zu haben.

Bosnisch-serbische Politiker drohten daraufhin, sich aus den gesamtstaatlichen Institutionen zurückziehen zu wollen. Dazu kam es vorerst aber nicht, doch Verfassungsreform und EU-Annäherung standen neuerlich still. Begünstigt werden all diese Ränkespiele auch durch unterschiedliche Interessenslagen. So sind EU-Annäherung und Visafreiheit vor allem ein Anliegen der Bosniaken; ein guter Teil erhofft sich dadurch eine Stärkung des Gesamtstaates, während die Serben genau diese Entwicklung fürchten. Hinzu kommt, dass etwa die Kroaten praktisch alle Doppelstaatsbürger (kroatischer Pass) und daher auf eine Visafreiheit nicht angewiesen sind. Sollte in diesem Jahr auch Serbien Visafreiheit erlangen und in großem Umfang den bosnischen Serben Pässe ausstellen, wären die Bosniaken in einer noch viel schlechteren Position. Dies zeigt, wie wichtig auch eine regionale Balkan-Strategie der EU ist, die bisher fehlt. Dazu zählt in BiH auch die Frage, wie es mit der Annäherung an die EU und der Umwandlung des OHR weitergehen soll. Denn dessen Durchschlagskraft lässt trotz der großen Vollmachten des internationalen Beauftragten immer mehr zu wünschen übrig, weil sich EU-Annäherung und Protektoratsstatus einfach nicht miteinander vertragen.

Sicher ist jedoch, dass EU und USA weder einen Zerfall des Staates noch eine Umwandlung in einen Zentralstaat zulassen können, weil beides dem Friedensvertrag von Dayton widerspräche. Zwischen diesen beiden Polen muss eine dauerhafte Lösung gefunden werden, damit, der internationale Beauftragte nur mehr als Vertreter der EU und mit weit geringeren Vollmachten tätig sein kann.

Die Ernennung des Österreichers Valentin Inzko zum internationalen Bosnien-Beauftragten fällt somit in eine Zeit des Übergangs und der tiefen (wirtschaftlichen) Krise, die es gerade auch mit seiner Hilfe zu bewältigen gilt, um BiH von einem instabilen, ungewollten Provisorium zu einem Staat mit realistischer EU-Perspektive zu machen.