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Ein Staat von eigenen Gnaden

Von Günter Spreitzhofer

Reflexionen

Autonom seit 1970, mit eigenen Briefmarken, einem Generator, vier Traktoren, 30 Einwohnern und über 50 Botschaftern in aller Welt.


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Plötzlich stand er da, gleich neben dem Fahnenmast im Vorgarten des geduckten Häuschens mit dem Wappen, wo dringend wieder einmal gejätet werden sollte. Schütteres Haar, schwarze Filzpantoffeln, graue Strickweste. Leonard George Casley, Farmer und Philosoph, Mathematiker und Manager. Ein gebeugter alter Mann mit wachen Augen, der sich nicht beugen lässt und den Rechtsstaat Australien älter aussehen lässt als sich selbst.

Nach britischem Recht

Mittlerweile ist er 87 und seit 42 Jahren Staatsoberhaupt von eigenen Gnaden, der sich mit His Royal Highness Prince Leonard I. of Hutt zufrieden gibt, wie er augenzwinkernd anmerkt. Sein Fürstentum Hutt River (Principality of Hutt River, PHR; früher: Hutt River Province) liegt im Bundesstaat Western Australia, rund 600 Kilometer nördlich von Perth und 100 Kilometer südöstlich von Geraldton.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Am 21. April 1970 feierte Queen Elizabeth II., immer noch offizielles Staatsoberhaupt von Australien, ihren 44. Geburtstag. Am selben Tag erklärte der Weizenfarmer mit einem Brief an Sir David Brand, den amtierenden Premierminister, die Sezession vom Commonwealth of Australia. Begründung: Irreparable Konflikte über staatliche Produktionsquoten für Weizen, die sich aufrechte Bürger nicht bieten lassen können.

Das war heikel, sagte er, und seither bleibt ihm gar nichts anderes übrig als Fürst zu sein: Nur unter Berufung auf Britisches Recht (Landesverratsakt 1495) sei es möglich gewesen, sich straffrei als unabhängig zu deklarieren - der Queen gegenüber sei er ohnedies immer loyal gewesen. Ein Monarch könne nicht nur nicht angeklagt werden, mehr noch, wer ihn - ein von seinen Untertanen gewähltes Staatsoberhaupt - an der Ausübung seiner Pflichten hindere, sei selbst ein Verräter.

Untertanen hat er nicht gar so viele. Etwa 30 Menschen schätzt er, die meisten sind Verwandte, aber sicher ist er nicht. Mit 75 Quadratkilometern ist das Land so groß wie Hongkong, doch äußerst spärlich besiedelt, offiziell 0,23 Menschen pro Quadratkilometer. Farmland, mitten in Westaustralien, wo auch rund 200 Aborigines irgendwo da draußen, zwischen Lake Beginning und Mount Secession, leben sollen. Aber genau weiß er es nicht. Steuern zahlt sowieso keiner. Er übrigens auch nicht - seit einem aus-tralischen Gerichtsurteil, wonach die damalige Hutt River Province offiziell zum Ausland erklärt wurde. Ein weiteres Urteil verpflichtet die australische Post, Briefe mit den Briefmarken von Hutt River in alle Welt zu schicken und nicht den Umweg über Kanada nehmen zu lassen, wie das früher der Fall war. Ansonsten ist man dazu übergegangen, den merkwürdigen Querkopf zu ignorieren. International wird der Zwergstaat, der fünfzehn mal größer als Monaco ist, nicht anerkannt.

Souveräner Sieg

Juristische Fakultäten aus aller Welt erstellen Expertisen über den skurrilen hageren Monarchen, der sich zu offiziellen Anlässen stets mit Zepter und roter Schärpe zeigt und die "Principality News", die offizielle Zeitung von Hutt River verteilt. Der Mann vom Hutt River hat seinen Kampf gegen bürokratische Windmühlen längst souverän gewonnen, weil er nichts zu verlieren hat. Und eine lukrative Einnahmequelle gefunden, die, losgelöst von Dürreperioden und agrarischen Weltmarktpreisen, saftige Einnahmen bringt. Der alte Mann versteht sich zu vermarkten. "An Australian Monarch", eine Monographie von William Pitt, um 17.50, T-Shirts um 20, Flaggen um 25 oder Lineale um drei australische Dollar - oder PHR-Dollar, die paritätisch gehandelt werden. Der Sammlerwert der Münzen steigt stetig. Das Merchandising rund um HRH-Leonard-Produkte ist längst zum Online-Geschäft und gleichzeitig fast zum Bumerang geworden.

Phantasiepässe

Denn irgendwann einmal war nicht mehr alles Jux und Tollerei. 18.000 Menschen weltweit haben mittlerweile eine Staatsbürgerschaft (overseas citizenship) erkauft, dürfen sich aber ohne Genehmigung nicht in Hutt River ansiedeln. Für umgerechnet 500 Euro war man dabei, was nicht jeder mehr lustig fand, vor allem weil es immer öfter gelungen sein soll, mit diesen Pässen die Grenzen von UNO-Staaten zu passieren. So gibt es seit 2008 einen Beschluss des EU-Parlaments, die Pässe von PHR als Fantasiepässe zu deklarieren, woraufhin der PHR-Botschafter in Deutschland die Ausstellung von Pässen 2010 gänzlich eingestellt hat.

"Dum spiro, spero" -solange ich atme, hoffe ich. So lautet der Wahlspruch des Landesfürsten. Aufrecht ist er immer noch. Aber ein alter Mann muss sich auch setzen dürfen, wenn die Luft knapp wird nach den Lungenentzündungen der letzten Jahre. Er hat viel erlebt in einem prallen Leben, in dem er erst in den 1960ern zum Farmer wurde. Er war Mathematiker, Astronom und Physiker, der in den 1950ern Flugbahnen für die NASA berechnete.

Er ist Hermetiker, und Verfasser zahlreicher Schriften in der Tradition der mythologisch-religiösen Bewegung von Hermes Trismegistus. Er experimentiert mit Fibonacci-Zahlen und erhielt vom Smithsonian Institute auf eine fachliche Anfrage hin die lapidare Antwort, dass ihm niemand mehr helfen könnte, weil sein Wissensstand längst zu hoch sei. Er ist vielfacher Ehrendoktor renommierter Universitäten. In seinen Ausstellungsräumen türmen sich Staatsgeschenke, Huldigungen und Urkunden. Der Papst hat ihm geschrieben, Johannes Rau und die Volksrepublik China. Leonard Casley und Gattin Shirley sind seit 2005 "Kentucky Colonels" - eine der höchstes zivilen Auszeichnungen des US-Bundesstaates Kentucky, überreicht vom Gouverneur persönlich. Ein wirrer Querulant sieht gewiss anders aus.

Australien gegen Hutt, Goliath gegen David. Inzwischen hat man miteinander zu leben gelernt, denn Goliath will gar nicht kämpfen. 1977 hat er Australien sogar den Krieg erklärt, aber dann doch resigniert, weil Australien nicht danach war. Gut so, denn die Hutt River Royal Navy hatte gerade ein Ruderboot, um Flussfisch für den Mittagstisch zu fangen.

Der Gouverneur von Westaus-tralien entbietet mittlerweile sogar Geburtstagswünsche, doch mit Canberra - dem gesamtaustralischen Regierungssitz - gäbe es immer noch Kalten Krieg. Dabei hat er zumindest im Nationalmuseum dort eine eigene Dauerausstellung bekommen. Die Zeiten, wo australische Zöllner an den Farmgrenzen Ausfuhrzölle eingehoben und langwierige Veterinärchecks für Vieh und Obst durchgezogen haben, sind lange vorbei. "Julia Gillard, die Premierministerin, mag mich immer noch nicht", sagt er lediglich und wirkt nicht sehr betrübt dabei. "Aber wenn sie kommen will, werden wir einen Termin für sie finden."

Dabei könnte er sogar standesgemäß auf Staatsbesuch fahren. Im Schuppen neben der knatternden blaugelben Flagge steht ein weißer Cadillac, Nummernschild PHR 1. Dahinter ein schwarzer Mercedes, mit etwas wenig Luft im Vorderreifen, beide leicht verstaubt, trotz der Rollbalken gegen Ungeziefer und Sturm, der den roten Sand Westaustraliens bisweilen durch den Kleinstaat bläst. Die Kühlerwimpel mit der Nationalflagge lehnen in der Ecke. "Ein Geschenk", sagt er stolz, "doch wohin soll ich damit fahren? Die Sandstraßen machen die Autos nur kaputt."

Hauptstadt-Leben

Und kaputte Fahrzeuge stehen genug herum, in der Hauptstadt des Fürstentums, die früher eine schlichte Weizenfarm mit Nebengebäuden war und heute Nain heißt. Es gibt eine Kapelle, wo damals die Inaugurationsmesse gehalten wurde und heute ein paar struppige Hunde dösen, weil die Tür nicht richtig schließt. Und ein wenig Schatten kann nicht schaden. Daneben die Regierungsgebäude, ein eingeschossiger Ziegelbau mit Veranda, in dem auch die fürstliche Post untergebracht ist und die Einreiseformalitäten erledigt werden: "Wen ich hier ohne gültiges Visum antreffe, der muss hierbleiben und ein wenig arbeiten", sagt er augenzwinkernd, und drückt einen Einreisestempel von PHR in den Reisepass, gleich neben den australischen, nur doppelt so groß. Das kostet zwei Dollar, die er in seiner grauen Westentasche verschwinden lässt.

Dahinter befinden sich die staatlichen Toilettenanlagen, Duschen und eine ältliche Waschmaschine, in der ein Gecko wohnt. Eine Kerze liegt auch dabei, denn die Stromversorgung des Kleinstaates steht und fällt mit dem öligen Generator hinten bei den Silos, der nicht mehr zu knattern hat, wenn sich Prinz Leonard zur Ruhe begibt. Und das ist zeitig. Dort stehen auch zwei ausgemusterte Wohnwägen, aufgebockt auf Planken und Ziegelresten, mit etwas Plastikblumenschmuck versehen, wenn Staatsgäste erwartet werden.

Die Dynastie

Für das gemeinere Volk gibt es seit Kurzem einen eigenen Campingplatz, der anlässlich der Feierlichkeiten der Diamantenen Hochzeit des Monarchenpaares 2007 errichtet wurde, die eine eigene Sondermarke wert war. Dafür ist Prinz Arthur Wayne zuständig - Sohn Nummer zwei, Thronfolger Nummer drei und zugleich Außenminister - , der mit seinem Ford Falcon in die Campingwiese am Grenzzaun zu Australien vorausfährt, der nur wenig jünger ist als er selbst, aber bedeutend ungepflegter.

7 Kinder, 20 Enkel, 29 Urenkel, Tendenz steigend: Der Weiterbestand der Casley-Dynastie scheint auf Jahrhunderte gesichert, auch wenn viele nur mehr gelegentlich auf Besuch kommen. Die königliche Familie tankt Traktoren, schert Schafe, wäscht HRH-Socken und ihre eigenen, jätet Gärten und fegt die Einfahrt hinter der Grenzmauer zu Australien.

Herzogin Annette, Gattin von Prinz Ian George- Sohn Nummer 1, Kronprinz, Earl of Fairdale, Ordensträger der Kreuzritter von Jerusalem, Premierminister und Minister für Wirtschaft und Post in Personalunion - kümmert sich um den Garten und die minderjährigen Thronfolger.

Prinz Graeme, Sohn Nummer 5 und Kind Nummer 6, ist Lehrer, unterrichtet auch die heimischen Aborigines und ist daher für Bildungsangelegenheiten zuständig. Kein Fürst ohne Fürstin, kein Angehöriger ohne Funktion: Prinzessin Shirley, auch als Her Royal Highness und Dame of the Rose of Sharon bekannt, lenkt umsichtig die Geschicke des Roten Kreuzes, auch wenn kein Rettungswagen zu sehen ist. Doch das ist in Westaustralien, draußen vor dem Zaun, wo abends dutzende Kängurus grasen, nicht anders.

Früher gab es auch Kupferabbau im Staatsgebiet, doch das ist vorbei. Heute lebt man von Schafzucht, Weizenanbau und Wildblumenexport - "vor allem nach Australien, unserem wichtigsten Handelspartner". Längst auch schon vom Tourismus, obwohl die regionalen Tourismusbüros rundum weder Broschüren noch aktuelle Anfahrtsskizzen aufliegen haben: Ein unscheinbares Schild an der Abzweigung vom Northwest Coastal Highway, keine Tankstelle weit und breit, auch keine Entfernungsangaben, dafür dutzende Kilometer kerzengerade Staubstraßen durch menschenleeres Farmland. "Früher haben sie unsere Hinweisschilder einfach weggedreht, damit uns ja niemand findet".

Rund 30.000 Menschen schaffen es angeblich trotzdem jährlich in die kleine Farm, wo Prinz Leonard immer noch fast täglich ab neun Uhr neben dem Fahnenmast auftaucht, nachdem Lakaien das blaugelbe Banner aufgezogen haben. Gegenüber steht eine Sandsteinbüste auf einem Sockel, mindestens ein Kubikmeter zwinkerndes Gesicht des Regenten, dahinter zwei Soldatenpuppen in Blechrüstung. Er, Leonard Casley, hat einen eigenen Stern, einen Roten Riesen, der nach ihm benannt ist: "Wenn ihr mich wieder sehen wollt, sucht mich einfach da oben am Himmel", sagt er, und zwinkert natürlich dabei. Was sonst?

Günter Spreitzhofer, geboren 1966, ist Lektor am Institut für Geographie und Regionalforschung (Universität Wien); Arbeitsschwerpunkte: (Südost)-Asien; Tourismus,
Urbanisierung und soziokulturelle Transformation, Umwelt und Ressourcen.