Die säkulare CHP stellt den begabten Rhetoriker Muharrem Ince für die türkische Präsidentschaftswahl auf.
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Nikosia/Ankara. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan bekommt es bei der vorgezogenen Präsidentenwahl am 24. Juni mit einem weiteren starken Gegenkandidaten zu tun. Am Freitag nominierte die größte Oppositionskraft, die sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP), ihren langjährigen Abgeordneten Muharrem Ince in Ankara einstimmig als Präsidentschaftsbewerber.
Der 54-Jährige sagte vor jubelnden Anhängern, er wolle kein Präsident der CHP, sondern aller Menschen in der Türkei sein. Die CHP-Mitglieder skandierten "Präsident Ince" und buhten Erdogan aus. Der Kandidat stellte seine Fähigkeit als mitreißender Redner unter Beweis, als er ankündigte, nach seiner Wahl nicht in den umstrittenen 1150-Zimmer-Prunkpalast Erdogans in Ankara einzuziehen. Er werde stattdessen wieder den traditionellen Amtssitz türkischer Präsidenten im Regierungsviertel Cankaya nutzen. "Den Palast übergebe ich den schlauesten Kindern dieses Landes", sagt er. "Ich mache ihn zur Bildungsstätte."
Ince schlug damit rhetorisch den Bogen zum Republik- und CHP-Gründer Mustafa Kemal Atatürk, der in Cankaya residierte und als dessen Ideenbewahrer sich die seit Jahren kraftlos wirkende CHP verortet. Auch der ehemalige Physiklehrer steht klar in der kemalistisch-säkularen Tradition der Partei, ist ein glühender Nationalist, tritt aber gleichzeitig für Demokratie, Gewaltenteilung und die außenpolitische Westbindung der Türkei ein.
Auf dem Nominierungsparteitag hatte CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu zuvor kritisiert, dass Erdogan die Gewaltenteilung und Pressefreiheit abgeschafft und die Demokratie an den Abgrund geführt habe. Tatsächlich will Erdogan mit den zeitgleichen Parlaments- und Präsidentenwahlen im Juni den Umbau der Türkei zum autokratischen Präsidialsystem abschließen.
Integrer Politiker
Mit Muharrem Ince erwächst dem Staatschef nun neben der populären rechtskonservativen Politikerin Meral Aksener und dem inhaftierten charismatischen Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas ein weiterer ernst zu nehmender Konkurrent. Ince ist ein ebenso guter Redner wie Erdogan, genauso aggressiv im Ton und als einer von wenigen CHP-Politikern in der Lage, ein Publikum rhetorisch aufzuputschen. Jüngere Leute begeisterte er mit YouTube-Videos seiner Reden, in denen er unverblümt gegen Erdogan polemisierte. Der integre, von keinen Skandalen belastete Kandidat ist ein Hoffnungsträger für viele Türken, die sich das Ende des 15-jährigen Erdogan-Regimes wünschen.
Seit 2002 wurde der Politiker regelmäßig ins Parlament gewählt und war acht Jahre lang Fraktionsvorsitzender seiner Partei. Immer wieder forderte er eine "grundlegende Erneuerung der CHP" und versuchte im Februar zum zweiten Mal vergeblich, Kilicdaroglu als Parteivorsitzenden abzulösen. Bis zuletzt hatte Erdogan darauf gesetzt, dass sein gewohnter Sparringspartner Kilicdaroglu für die 25-Prozent-Partei ins Rennen gehen würde, weil der langjährige CHP-Chef als völlig uncharismatisch gilt. Doch Kilicdaroglu hat wie beim Schmieden seines "Wahlbündnisses für Demokratie" mit anderen Oppositionsparteien erneut strategische Stärke bewiesen, indem er den parteiintern populären Ince nominieren ließ. Er sendet damit zugleich das Signal, dass die CHP ihre Samthandschuhe auszieht.
Foto mit Bier
Zwar dürfte Ince keine Wähler aus dem religiös-konservativen Lager gewinnen, aber andererseits verhindern, dass wankelmütige CHP-Wähler zur rechtsnationalistischen Meral Aksener überlaufen. Die AKP reagierte vorhersehbar auf seine Nominierung. Im Internet veröffentlichten regierungsnahe Gruppen ein Foto, das Ince zeigt, wie er angeblich im Fastenmonat Ramadan ein Bier trinkt - undenkbar für strenggläubige Muslime. Inces säkulare Anhänger indessen wird das kaum beeindrucken.
Völlig offen ist, wie die Kurden, die bis zu 20 Prozent der Wähler ausmachen, reagieren würden, falls Ince in einer möglichen Stichwahl gegen Erdogan antritt. Der CHP-Kandidat gilt einerseits als harter anti-kurdischer Nationalist. Aber er erwarb sich den Respekt vieler Kurden, als er im Mai 2016 im Parlament gegen die von Erdogan betriebene, auch von vielen seiner CHP-Kollegn unterstützte Aufhebung der Immunität von Abgeordneten votierte, die darauf abzielte, Parlamentarier der prokurdischen HDP wegen angeblicher Terrorunterstützung ins Gefängnis zu bringen. Eine Blitzumfrage des AKP-nahen Meinungsforschungsinstituts Konsensus sah Ince bei 45 Prozent und Erdogan bei 55 Prozent der Wählerstimmen. Aber noch hat der Wahlkampf gar nicht begonnen.