Trotz sozialem Netz leben fast eine Million Erwachsene in Österreich in Armut.
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Alle Jahre wieder rufen liberale Politiker und Denkfabriken den Tag der Steuerfreiheit aus. Sie zelebrieren den Zeitpunkt, ab dem sie sich nicht mehr an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen müssen. Der Chef der deutschen Liberalen, Christian Lindner, schlug unlängst Alarm, weil ein Drittel der Wirtschaftsleistung Deutschlands mittels staatlicher Budgets in Soziales fließt. Kaum macht die Pandemie Pause, beginnt auch in Österreich eine Diskussion, wie man die größte soziale Versicherungsleistung, die Pensionen, um Milliarden kürzen kann. All das ist besorgniserregend, denn Sozialleistungen wirken nicht nur in Krisenzeiten Wunder.
Der österreichische Sozialstaat schützt Jahr für Jahr mindestens 600.000 Erwachsene vor Armut - das sind mehr Menschen, als in Kärnten leben. Ohne Arbeitslosengeld, Familienbeihilfe, Krankenversicherung und Ähnliches würde ein Viertel der Bevölkerung in Armut leben. Das bedeutet für einen Erwachsenen, mit weniger als 1.328 Euro pro Monat (zwölfmal im Jahr) auszukommen. Es liegt auf der Hand, dass man damit nicht (gut) leben kann. Arme sind statistisch häufiger chronisch krank oder schwerer gesundheitlich beeinträchtigt.
Der Sozialstaat reduziert nicht nur Armut, er macht uns alle reicher: Erstens erhöht die Umverteilung das Einkommen für Geringverdienende. Wer arm ist, gibt jeden zusätzlichen Cent für Grundbedürfnisse aus und kurbelt damit Konsum und Wirtschaftskreislauf an.
Zweitens ist eine Reduktion der Ungleichheit klimafreundlich: Das einkommensstärkste Viertel in Österreich hat einen mehr als doppelt so hohen CO2-Fußabdruck wie das unterste Viertel.
Drittens gefährdet hohe Ungleichheit die Demokratie, weil Reiche die Politik übermäßig beeinflussen. Zusätzlich zum Kreuz am Wahltag können sie etwa Lobbying betreiben oder an Parteien spenden, um ihre Interessen durchzusetzen - oft konträr zu den Interessen der Vielen. Im Nebenjob erleichtert der Wohlfahrtsstaat also sozial gerechten Klimaschutz und hilft, dass das Land besser funktioniert.
Doch er könnte noch viel mehr, wenn die Politik ihn ausbaut. Trotz sozialem Netz leben noch 931.000 Erwachsene in Armut - für eines der reichsten Länder der Erde einige Hundertausende zu viel. Ein Riss im Netz ist das niedrige Arbeitslosengeld. Jede zweite Person, die ein Jahr oder länger keinen Job findet, ist armutsgefährdet. Die in der Krise hart getroffenen kleinen Selbständigen mussten Einkommenseinbußen von 40 Prozent und mehr hinnehmen, weil sie keinen rechtlichen Anspruch auf Einkommensersatz hatten. Eine verpflichtende Arbeitslosenversicherung hätte das abfedern können. Eine weitere Baustelle tut sich bei Alleinerziehenden auf: Trotz Sozialleistungen ist noch immer jede Dritte der meist Frauen armutsgefährdet.
Angesichts dieser Zahlen wirkt eine Diskussion über Kürzungen im Sozialstaat wie eine Themenverfehlung. Zu groß sind die Lücken, die geschlossen werden müssen: Leistbares Wohnen, ein höheres Arbeitslosengeld, eine bessere Absicherung für Selbständige und der Ausbau von Kinderbetreuung können vier nächste Schritte sein, um die verbleibende knappe Million Menschen aus der Armut zu holen.