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Ein starkes Europa, aber ohne Hegemon

Von Walter Hämmerle

Politik
"Es kann an der Notwendigkeit, Europa zu erneuern, keinen Zweifel geben", sagt Gilles Pécout.
© Philipp Hutter

Gilles Pécout, Frankreichs Botschafter in Wien, erklärt den Blick der "Grande Nation" auf die EU.


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Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron befindet sich seit Amtsantritt 2016 auf einer Mission. Der 44-Jährige hat es sich wie kein anderer europäischer Politiker zur Aufgabe gemacht, die EU zu einem handlungsfähigen internationalen Akteur zu machen. Macron weiß: Wenn das nicht bald gelingt, dann womöglich nie. Entsprechend ungeduldig drängt er auf eine Erneuerung der Union. Zu Jahresbeginn hat Paris die EU-Ratspräsidentschaft übernommen, im April und Mai wählen die Franzosen einen neuen Staatspräsidenten. Dass Macron erneut kandidiert, ist sehr wahrscheinlich, aber noch nicht fix. Die "Wiener Zeitung" sprach mit Gilles Pécout, Frankreichs Botschafter in Wien und renommierter Historiker, über den Blick der "Grande Nation" auf die EU.

"Wiener Zeitung": Die EU sei "gespalten, unfähig zu gemeinsamen Projekten und auf dem Weg in die geschichtliche Irrelevanz", referierte Präsident Macron zum Auftakt der EU-Präsidentschaft Kritik an der Union. Deshalb müsse "2022 ein Wendepunkt für Europa" sein. Ist das tatsächlich das Bild, das in Paris von der EU besteht, oder doch nur innenpolitisches Schattenboxen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen?

Gilles Pécout: Es kann an der Notwendigkeit, Europa zu erneuern, keinen Zweifel geben. Das hat auch nichts mit der französischen Ratspräsidentschaft und schon gar nicht mit dem Wahlkampf zu tun, sondern der Ruf nach einer Erneuerung der Union war schon 2017 in der Sorbonne-Rede Macrons das zentrale Thema. Wir müssen sicherstellen, dass die Jugend an die Zukunft Europas glaubt. In der von Ihnen zitierten Kritik geht es daher nicht um Polemik oder Wahlkampf, sondern um die Erkenntnis, dass, um die EU zu erneuern, wir einige ihrer Modalitäten ändern müssen.

In den kommenden sechs Monaten will Frankreich die europäische Souveränität vorantreiben. Die Idee von Souveränität ist bisher mit dem Nationalstaat verbunden; was versteht Frankreich unter diesem Begriff?

Wir Franzosen verstehen darunter das Gleiche wie auch alle anderen Europäer. Wir brauchen ein mächtiges, ein starkes Europa, aber ohne hegemoniale Strukturen. Souverän zu sein, heißt zum Beispiel, die EU in die Lage zu versetzen, dass sich alle ihre Mitgliedstaaten an die Regeln des Rechtsstaats halten, dass die Union über eigene Verteidigungs- und Sicherheitsstrukturen verfügt.

Allerdings ist in der EU umstritten, wie sich die Souveränität der Mitgliedstaaten zur EU verhält. Polen und Ungarn bestreiten, dass EU-Recht zwangsläufig über nationalem Recht steht, und auch das deutsche Verfassungsgericht in Karlsruhe, wenngleich mit gänzlich anderer Intention, ist ein wachsamer Hüter des demokratischen Prinzips. Befeuert die Forderung nach europäischer Souveränität nicht einen schwer zu lösenden Konflikt?

Die Idee der Souveränität ist untrennbar mit der Entscheidungshoheit der Bürgerinnen und Bürger verbunden. Hierin liegt eine der ersten universellen Überzeugungen der modernen Welt begründet. So gesehen ist das Konzept der Souveränität, das von einem intakten Vertrag zwischen den Regierenden und Bürgern ausgeht, untrennbar mit unseren Vorstellungen von Demokratie und liberalem Rechtsstaat verbunden, mit Hegemonie und Realpolitik als Gegensatz.

Sie projizieren die Idee der nationalen Volkssouveränität auf die EU, aber setzt das nicht die Existenz eines europäischen Volks, einer europäischen Bürgerschaft voraus? Oder gibt es eine solche womöglich bereits?

Das ist eine große, wichtige Frage. Wir haben hier keine Antwort, sondern müssen darauf aufbauen, wie die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft der EU ausfallen. Diese startete im Mai 2021 und soll noch heuer abgeschlossen werden. Aber noch einmal zurück zur Frage des Respekts für, auch der Durchsetzung des Rechtsstaats: Dazu gehört, dass wir Europas Sicherheit garantieren und seine Grenzen schützen können. Die EU soll nicht zur Festung werden, aber der Schutz unserer Außengrenzen ist unerlässlich, wenn wir Mechanismen entwickeln wollen, die helfen, in Krisen wie derzeit mit Belarus zu bestehen.

Aber bei der europäischen Souveränität geht es nicht nur um Sicherheit, dazu gehört auch, dass wir wieder vermehrt vitale Güter selbst produzieren. Das betrifft klassische Industrien wie Gesundheitsprodukte. Außenminister Jean-Yves Le Drian hat im April 2021 erklärt, dass es inakzeptabel sei, dass in der EU gegenwärtig "nicht ein einziges Gramm Paracetamol" (Wirkstoff gegen Schmerzen und Fieber; Anm.) hergestellt werde. Das kann tatsächlich nicht sein.

EU-Institutionen wie Mitgliedstaaten wachen eifersüchtig über ihre Kompetenzen. Die bestehende Aufgabenverteilung steht in der Kritik. Ist hier ein Vorstoß unter französischer Präsidentschaft geplant?

Wir sollten aufpassen, dass die notwendige Debatte über die Erneuerung der EU nicht als Kampf gegen die nationalen Kompetenzen verstanden wird. Diese Diskussion gibt es bereits in allen EU-Staaten, und sie lässt sich leicht für populistische Ziele einsetzen. Deshalb müssen wir darauf achten, dass es zu keinem Gegensatz zwischen europäischen Werten, Handlungen und Prozessen und jenen auf nationaler Ebene kommt. Es gibt Akteure, die Europa in diesen Kategorien denken und diskutieren. Das ist sehr gefährlich. Wir haben es hier mit langwierigen Prozessen zu tun, denen ich mir als Historiker für das 19. Jahrhundert nur zu gut bewusst bin. Die Entstehung neuer Nationalstaaten nach 1815, etwa Griechenland und Italien, war das Ergebnis interner Staatsbildung sowie von trans- und internationalen Netzwerken. Die europäische Einigung nach 1945 baute auf dem Konzept "Einheit in Vielfalt" auf. Das ist nicht nur eine rhetorische Formel, wir müssen auch daran glauben und arbeiten. Alle Mitgliedstaaten haben ihre eigenen Institutionen, aber sie sind über die gemeinsamen Werte verbunden. Und diese müssen sich in gemeinsamen Handlungen und institutionellen Mechanismen widerspiegeln.

Auf nationaler Ebene besteht oft die Überzeugung, dass die EU Mittel zum Zweck ist, damit die Staaten auch unter globalen Bedingungen weiter bestehen können. Teilen Sie diese Ansicht?

Ja. Die europäische Einigung ist der Weg, damit die Mitgliedstaaten, die gemeinsame Werte und Ziele verfolgen, stärker werden. Auch Präsident Macron sagt, dass Europa nicht das Ende der Nationen sei. Das Gegenteil ist richtig. Die EU darf nicht zu einem hegemonialen Staatsmodell werden.

Wir sind Zeugen, wie sich die militärischen Spannungen zu Russland, aber auch zu China massiv verstärken. Noch Ende 2019 hat Macron die Nato als "hirntot" bezeichnet und das Bündnis mit den USA in Frage gestellt. Ist das wirklich im Interesse der Europäischen Union?

Nein, das ist es nicht. Die Äußerungen Präsident Macrons waren als Kritik vor einem konkreten Hintergrund gedacht, um das transatlantische Bündnis aufzurütteln und nötige Reformen zu starten. Wir wissen, dass wir die Allianz mit den USA brauchen, aber die USA drohten damals das Interesse an Europa zu verlieren. Das hat sich jetzt wieder geändert. Die Auseinandersetzung mit Russland darf trotzdem nicht zur bilateralen Angelegenheit zwischen Moskau und Washington werden, die EU muss hier ihre eigene Rolle übernehmen - und zwar im Einklang mit unseren Verbündeten, nicht gegen sie.

Ist Österreichs Regierung ein Partner für die Pläne der französischen EU-Präsidentschaft oder ein Bremser?

Die Regierungen beider Länder ziehen bei den meisten Dossiers an einem Strang, insbesondere beim Thema Klimaschutz, hier vor allem bei der Umsetzung der CO2-Reduzierung durch einen Grenzschutzmechanismus, beim Außengrenzschutz, der Durchsetzung des Rechtsstaats, der Gleichstellung von Mann und Frau, und dem Kampf gegen jede Form von Terrorismus. Eine Reform des Schengen-Raums ist keine leichte Sache, und es ist gut, dass Wien und Paris hier Seite an Seite stehen.

Zur Person: Gilles Pécout (61) ist seit September 2020 Botschafter Frankreichs in Wien. Zuvor leitete der Historiker den Bereich Geschichte an der Eliten-Hochschule "École normale supérieure" und war Rektor der "Academie de Paris".