Analyse: Syriza regiert in Griechenland. Europas Sozialdemokraten geraten unter Druck. EU-Gegner heften sich allerorts Tsipras’ Sieg an ihre Fahnen. Die Aussicht auf eine echte Radikalisierung in Europa ist mehr als nur Drohkulisse.
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Athen. Der Wahlsieg der linksradikalen Syriza in Griechenland hat einen Stein ins Rollen gebracht. Die Auswirkungen sind vielfältig. Das Schicksal der Pasok, die nur noch eine Kleinpartei ist, bringt die restlichen sozialdemokratischen Parteien in Europa unter Zugzwang. Sie laufen Gefahr von jungen, kompromisslosen Bewegungen über den Haufen gerannt zu werden. Gleichzeitig wittern die EU-feindlichen Kräften Morgenluft. Die griechischen Linken werden von Parteien wie der Front National und der rechtspopulistischen Lega Nord gefeiert. Hier frohlockt man - von einer "gigantischen Ohrfeige" für die EU ist die Rede. Das griechische Wahlergebnis hat gezeigt, dass eine Radikalisierung in Europa jederzeit möglich ist - auch eine gefährliche. Es darf nicht vergessen werden, dass es sich bei dem "Schreckgespenst" Syriza um eine europafreundliche Linkspartei handelt, die einen Austritt, auch aus der Eurozone, nicht will. Drittstärkste Partei ist aber die rechtsextreme "Goldene Morgenröte" mit einem offen faschistischen Parteiprogramm (siehe unten). Die Unzufriedenheit mit dem Status quo ist groß in Europa, das verleiht auch Neonazis Auftrieb.
In Verlegenheit
Beobachter weisen darauf hin, dass die Sozialdemokratie klassischen Zuschnitts - ähnlich wie die Pasok - zerrieben wird, wenn sie jetzt nicht reagiert. Die Pasok ist in einer schlimmen Krise, denn wer Syriza fürchtet, wählt als Bollwerk die konservative Nea Dimokratia. Die Pasok ist diskreditiert, weil sie die korrupt-oligarchischen Strukturen mitgeschaffen hat, an denen Griechenland schließlich fast zerschellt ist: Korruption, Klientelismus und Misswirtschaft. Schon bei den Wahlen 2012 wurde die Pasok vom Wähler massiv abgestraft. Trotzdem stellte sie sich an die Seite des konservativen Premiers Antonis Samaras und verteidigte das von der EU-Troika geforderte, rigide Sparprogramm.
Europas Sozialdemokraten, allen voran der französische Staatschef Francois Hollande, stehen Syriza unterdessen wohlwollend bis distanziert gegenüber. Hollande meinte zwar, er strebe eine "enge Kooperation" zwischen Frankreich und Griechenland im "Dienste von Wachstum und Stabilität" an. Ob das nur Höflichkeiten sind, wird sich schnell weisen. Dass sich Frankreich damit der griechischen Forderung nach einem Schuldenschnitt anschließt und die Regierung Tsipras auch in anderen Bereichen unterstützt, ist fraglich.
Auch Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann lässt Sympathien für Tsipras erkennen. Freilich sehr vorsichtig. Er sei "überzeugt, dass man in der Europäischen Union als Schicksalsgemeinschaft im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Armut eine gemeinsame Basis finden muss", so der Kanzler. Schuldennachlass ist für Faymann kein Thema: "Ich gehe davon aus, dass sich auch die zukünftige griechische Regierung an die Vereinbarungen mit der EU halten wird."
Der griechische Politikwissenschaftler Michaelis Spourdalakis meint, dass sich Europas sozialdemokratische Parteien entweder radikalisieren und in der Sozialpolitik neu ausrichten müssten, oder sie würden "überflüssig". In Österreich ist eine linkspopulistische Bewegung, die der SPÖ Konkurrenz macht, nicht absehbar. In Spanien eilt indes die junge, rebellische Podemos von Erfolg zu Erfolg und gräbt den Sozialdemokraten das Wasser ab.
Die neue griechische Regierung will jedenfalls eine internationale Konferenz einberufen, die über den Schuldenschnitt beraten soll. Zudem will man eine Allianz der Südstaaten Europas schmieden, die gegen den Sparkurs und für Wachstum in der EU kämpfen soll. An beiden Fronten steht der neue griechische Premierminister derzeit ziemlich alleine da.
Trittbrettfahrer
Bemerkenswert ist die hämische Freude, die EU-Gegner angesichts des Syriza-Sieges empfinden. Marine Le Pen, Vorsitzende des rechtsextremen Front National, feiert den Syriza-Erfolg als Signal, als Aufstand gegen die Europäische Union. "Mit der EU sind wir nicht mehr frei in unserer Geld-, Haushalts- und Einwanderungspolitik", sagt sie. Ganz ähnlich formuliert es der Chef der rechtspopulistischen Lega Nord, Matteo Salvini, in Italien. "Die Griechenland-Wahl ist eine Ohrfeige für die europäische Sowjetunion des Euro, der Arbeitslosigkeit und der Banken." Nigel Farage, Chef der britischen Europagegner Ukip, teilt mit, er sehe im Wahlergebnis einen Hilferuf derjenigen, die der Euro verarmt habe. Jetzt beginne das "Pokerspiel mit Merkel", twitterte er voller Vorfreude. Die EU-Gegner haben erkannt, dass die Richtung stimmt. Demnächst, meinen sie, sind die Desillusionierten auf ihrer Seite.
Explosiver Sparstift
Tsipras hat jedenfalls leidenschaftliche Unterstützer in den Reihen des wissenschaftlichen Sachverstands. Der Chef des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, der Wirtschaftswissenschafter Heiner Flassbeck und den österreichischen Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister etwa sind auf der Seite des Syriza-Chefs. Sie sprechen von einem "Kaputtsparen" Griechenlands. Das Konzept, schmerzhafte Reformen unter hohem Spardruck einzufordern, sei zum Scheitern verurteilt. Sie warnen vor den sozialen und politischen Folgen, auch für den Frieden in Europa.
In der Tat deutet Tsipras Sieg zumindest an, dass eine gefährliche Radikalisierung in Europa jederzeit möglich ist. Immer öfter wird die Wirtschaftskrise der 30er-Jahre und ihre fatalen Folgen als Vergleich herangezogen: Am Vorabend des Nationalsozialismus sei in Deutschland ebenfalls ein rigider Spar- und Reformkurs zusammengespannt worden - mit den bekannten Folgen.
Doch die Stimmen, die all diesen Argumenten zum Trotz auf die Beibehaltung des Status quo für Griechenland pochen, sind derzeit Ton angebend - noch.