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La Rochelle, einst souveräne Kaufmannsrepublik und rebellische Hugenottenhochburg, engagiert sich heute in ökologischem Urbanismus.
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Er hatte gerade das Licht der Welt erblickt, da strotzte er schon vor Kraft und Tatendrang: Die Rede ist von Pantagruel, dem Sohn des Riesen Gargantua. Das Riesenbaby war einfach nicht zu bändigen. Also ließ der Vater vier Ketten schmieden, um Pantagruel in seiner Wiege festzubinden. "Von diesen Ketten könnt ihr die eine noch jetzt zu La Rochelle sehen, wo man sie jeden Abend zwischen den beiden dicken Hafentürmen ausspannt", macht uns der Renaissancedichter François Rabelais weis. Die beiden Haudegen sind die Helden seines legendären Romanzyklus "Gargantua und Pantagruel". Als diese hinreißende Parodie auf den Ritterroman erschien, war die höfische Hochkultur längst verblüht. Das vor karnevalesker Kreatürlichkeit, humanistischer Gelehrtheit und beißender Ironie sprühende Werk erregte dennoch die Gemüter. Immerhin war der begnadete Satiriker (und praktizierende Mediziner) Rabelais auch ein römisch-katholischer Ordensmann - der seine Riesen-Romane mit einer kräftigen Dosis Papstkritik und reformationsfreundlichen Passagen würzte. Die theologischen Dogmatiker der Sorbonne verurteilten das populäre Werk, der Staat verbot es.
La Rochelle kommt darin übrigens mehrmals vor. Von diesem westfranzösischen Atlantikhafen bricht Pantagruel zu seiner Universitätstour auf und schifft sich nach Bordeaux ein. Sehr viele Abenteuer später, im Kapitel über das Laternenland, heißt es dann: "Bald darauf legten wir im Hafen von Laternien an: Hier erkannte Pantagruel hoch auf einem Turm die Laterne von La Rochelle, die uns hell entgegenleuchtete." Das birgt eine gewisse Brisanz, zumal La Rochelle im 16. Jahrhundert eine Hochburg der calvinistischen Protestanten Frankreichs ("Hugenotten") war. Das hatte der Stadt den Beinamen "französisches Genf" eingetragen.
Hugenottenhochburg
In jenem Jahrhundert hatten acht Kriege zwischen Katholiken und Protestanten das Land erschüttert. Repression und Scheiterhaufen sollten die "Ketzer" bezwingen. Machtpolitische, dynastische Interessen des Königshauses spielten darin eine erhebliche Rolle. König Henri IV., selbst ein Protestant, der nach seiner Inthronisierung zum Katholizismus konvertierte, konnte den Konflikt durch das Toleranzedikt von Nantes befrieden. Doch Henri IV. wurde 1610 ermordet, und sein Sohn und Thronfolger Ludwig XIII. setzte auf den Hardliner Kardinal Richelieu. Als mächtiger Minister verfolgte dieser das Ziel, das Königtum als absolutistische Zentralmacht zu festigen. Das bedeutete die sukzessive Abschaffung jeglicher Sonderrechte für Hugenotten.
Das autonome, selbstbewusste La Rochelle war Richelieu naturgemäß ein Dorn im Auge, die Belagerung durch königliche Truppen sollte die Rebellen auf Linie bringen. Doch die Rochelaiser erachteten ihre befestigte Stadt für uneinnehmbar - zumindest von der Landseite her. Schon einmal, 1573, hatte man den königlichen Belagerern den Garaus gemacht. Und von der Seeseite her kam nun Unterstützung durch England, den großen protestantischen Verbündeten. Der richtete militärisch wenig aus, versorgte die Belagerten aber mit Nahrung und Munition. Bis, ja bis Richelieu in der Bucht einen Deich errichten ließ, von dem aus die Armee jede britische Unterstützung abwehrte. Intra muros brach eine verheerende Hungersnot aus, Bürgermeister Jean Guiton kapitulierte nach fast 14 Monaten Belagerung. Von insgesamt 28.000 Einwohnern überlebten nur 6000. Der französische Romancier Robert Merle hat diese Religionskonflikte in seiner vielbändigen Saga "Fortune de France" am Beispiel der Adelsdynastie Siorac erzählt. Der Band "Ein Kardinal vor La Rochelle" (dt. 2002, Aufbau Verlag; Original 1999, "La gloire et les périls") handelt von der Belagerung und Kapitulation der Hafenstadt.
Das helle Licht, das Pantagruel von der "Tour de la Lanterne" entgegenleuchtete, kann als früh-aufklärerische Lichtmetapher gedeutet werden. Das ist freilich ein wenig spekulativ. Der Laternenturm aber, der existiert wirklich. Er wurde im Mittelalter errichtet, in seinem Inneren logierte ein Kapitän, der sogenannte "désarmeur des nefs". Er wachte darüber, dass kein Schiff mit Waffen an Bord in den Hafen einlief. Zum Leuchtturm wurde das Bauwerk, nachdem man ihm eine gotische Spitze mit Laterne aufgesetzt hatte. Auch als Gefängnis für Korsaren und andere üble Seebären hat sich der Turm bestens bewährt.
Ebenso berühmt wie der Laternenturm sind die Tour de la Chaîne ("Kettenturm") und sein Gegenüber, die Tour Saint-Nicolas. Wer seine Hafeneinfahrt mit solchen Bollwerken befestigt, hat Wertvolles zu verteidigen: La Rochelle hatte sich im Mittelalter vom Fischerdorf zur stolzen Kaufmannsrepublik entwickelt. Seine Souveränität basierte auf umfassenden Freiheitsrechten und Privilegien (Steuer, Zoll). Kein kirchlicher oder weltlicher Fürst gab hier den Ton an, man unterstand direkt dem König. Und der war fern. Diese Sonderrechte erwiesen sich als Standortvorteil, La Rochelle war lange Zeit Frankreichs wichtigster Atlantikhafen. Hinzu kam die geschützte Lage durch die vorgelagerten Inseln Ré und Oléron. Allerdings konnten große Schiffe den Hafen nur bei Flut anlaufen.
Die Stadt hatte sich zudem als beutender Bankenplatz für Seehändler etabliert, wo man den "crédit à la grosse aventure" (dt. Großaventurei) praktizierte, einen Seedarlehensvertrag, der im Zielhafen rückzahlbar war. Dem ausgeprägten Geschäftssinn der Rochelais war es auch zuzuschreiben, dass in dieser Hafenstadt 1490 der erste Seeversicherungsvertrag unterzeichnet wurde.
Die Reformation hatte die Beziehungen zu Nordeuropa verstärkt. La Rochelle wurde als Niederlassung der Hanse in deren mächtiges Netzwerk integriert. Wein und Salz fanden den Weg zu den nördlichen Handelspartnern, während die Schiffe auf dem Rückweg etwa Tuch und Getreide aus Flandern, Zinn aus Cornwall oder Blei aus Irland geladen hatten. Nicht nur der Austausch von Waren florierte, auch jener des sogenannten capital humain: Der Kaufmannsnachwuchs wurde in die jeweiligen Partnerländer geschickt, um deren Sprache und Handelssystem zu lernen.
Mit der Kapitulation 1628 verlor die Stadt ihre Privilegien, ihre Handelsmacht und ihren Befestigungswall. Das Drama brannte sich im kollektiven Gedächtnis der Rochelais ein. Guitons Standbild dominiert den Platz vor dem prächtigen Rathaus. Im gegenüberliegenden Café de la Poste widmen sich Damen beim gepflegten Nachmittagsbier gern anderen Themen: wer in der Markthalle die besten "crevettes roses" anbiete, wie man die Kaution für Studentenzimmer kalkuliert oder dem Trubel der Francofolies (Chansonfestival) entkommt.
La Rochelle hatte im frühen 17. Jahrhundert also Dreiviertel der Bevölkerung und alle Sonderrechte verloren. Doch der protestantische Unternehmergeist ist stark, und so erblühte der Handel rasch neu: mit karibischem Zucker, kanadischen Pelzen, neufundländischem Kabeljau - und mit Sklaven. Zu großem Wohlstand brachte es dabei die Reederfamilie Fleuriau, welche u.a. Zuckerplantagen in Santo Domingo unterhielt. Ihr ehemaliges Stadtpalais beherbergt nun das an kolonialistischen Skurrilitäten reiche Musée du Nouveau Monde.
Auch das Passagieraufkommen stieg: Viele Emigranten starteten von hier, erzwungen oder freiwillig, ihre Neue-Welt-Abenteuer.
Die Französische Revolution versetzte La Rochelle in einen hundertjährigen Dornröschenschlaf. Die Wende kam erst 1890, mit dem modernen Handelshafen La Pallice. 1940 baute die deutsche Kriegsmarine dort einen U-Boot-Stützpunkt.
Simenons Wahlheimat
Gleichfalls 1940 hatte die Stadt am Bahnhof ein Aufnahmezentrum für belgische Flüchtlinge eingerichtet. Mit der Leitung war Georges Simenon betraut, der seit Jahren in der Region lebte und La Rochelle seine "zweite Heimat" nannte. Der Erfolgsautor hat dieses Kapitel in seinen Memoiren und im Roman "Der Zug" verarbeitet. Die Stadt lieferte ihm viele Schauplätze: etwa das noch existente (Jugendstil-)Café de la Paix, wo Simenon Stammgast war und sein Pferd (!) an den Arkaden anzubinden pflegte (Roman "Der Ausbrecher"), die Hafentürme ("Ankunft Allerheiligen"), die von Arkaden gesäumte Rue du Minage ("Die Fantome des Hutmachers"), um nur einige zu nennen. - Das Architekturerbe von La Rochelle hat den Zweiten Weltkrieg ohne große Schäden überstanden. Mittelalterliche Fachwerkhäuser, elegante Renaissance-Palais und Patrizierhäuser aus dem 18. Jahrhundert prägen die Altstadt.
Die Hafenzonen erfuhren eine massive Ausweitung: La Pallice wurde zum bedeutenden Umschlagplatz für Holz und Getreide (Gesamtumschlag 2014: 9,4 Millionen Tonnen), der Fischereihafen Chef de Baie zur "Zone Agrocéan" (mit Aquakulturen und Fischverarbeitungsbetrieben) und der Yachthafen Les Minimes zur größten Marina am französischen Atlantik, was die Ansiedelung von Bootswerften und -ausstattern förderte.
Der TGV nach Paris, direkte Flugverbindungen u.a. nach London, Dublin, Brüssel, Porto oder Genf, eine junge Universität und noch jüngere Hightech-Betriebe ließen den in- und ausländischen Bewohner-Zustrom anschwellen - und die Immobilienpreise explodieren.
Seit Jahrzehnten setzt die Hauptstadt des Departements Charente-Maritime auch auf Ökologie: 1975 schuf sie Frankreichs erste Fußgängerzone, wenig später stellte sie Fahrräder bereit und führte den autofreien Tag ein. Elektro-Miet- und Lieferwagen bzw. ein Meeresbus mit Solarantrieb tragen weiters zur Optimierung von Luft- und Lebensqualität bei.
Der Bogen zur mittelalterlichen Handelsmacht schließt sich für La Rochelle auf interessante Weise: Seit 2004 ist die Stadt Mitglied der "Neuen Hanse". 1980 in Zwolle (NL) als "Lebens- und Kulturgemeinschaft" gegründet, will der Bund mit über 200 Städten aus 16 Ländern zur sozio-ökonomischen und kulturellen Einigung Europas beitragen. Geist und Tradition der alten Hanse prägen das neue Netzwerk, das sich als internationale Kontaktbörse, Tourismusförderin und integrative Kraft versteht.
Ingeborg Waldinger, geboren 1956, Romanistin und Germanistin, ist Redakteurin im "extra" der "Wiener Zeitung" und literarische Übersetzerin.