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Ein streitbarer Vertreter demokratischer Werte

Von Susanne Güsten

Politik

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Ein großer Redner ist Ahmet Necdet Sezer nicht - aber was er sagt, hat es in sich. Gerade in der Türkei grenzt es fast an Verrat, was der Jurist erst am Dienstag wieder vor der versammelten politischen Elite des Landes zu sagen hatte. Nuschelnd, stockend und tief über sein Manuskript gebeugt, kritisierte der Verfassungsgerichtspräsident bei einer Festansprache die von den Militärs diktierte Verfassung der Türkei als undemokratisch. Der Mann kommt nun aber nicht in Polizeihaft, sondern in den Präsidentenpalast.

Seine Kandidatur ist eine gute Wahl - wenn auch aus der Not geboren. Denn Ecevit und seine Koalitionspartner konnten sich nicht auf einen Politiker aus ihren eigenen Reihen einigen und einigten sich deshalb unter Außerachtlassung bisheriger Konventionen auf Sezer als angesehene Persönlichkeit von außerhalb des Parlamentes. Als "Konsenskandidat" wurde Sezer von der türkischen Presse begrüßt: Mit seiner Wahl zum ersten Mann im Staat würden jene Kräfte in der Türkei gestärkt, die sich für mehr Demokratie und eine weitere Annäherung an Europa einsetzen. Denn in seiner bisherigen Amtszeit machte der Jurist sich als streitbarer Verfechter demokratischer Werte einen Namen. Bekannt wurde Sezer vor allem mit einer gefeierten Grundsatzrede vor genau einem Jahr, in der er vom damals gerade neu gewählten Parlament durchgreifende Reformen verlangte. Seine Forderungen waren so radikal-demokratisch, dabei aber durch ihre Herleitung vom demokratischen Anspruch der Türkei so unangreifbar, dass das europäisch-liberale Lager im Land aufjauchzte.

In der Ansprache, die tagelang Schlagzeilen machte und monatelang zitiert wurde, griff Sezer die Beschneidung der Meinungsfreiheit in der Türkei an und rief das Parlament auf, mit Gesetzes- und Verfassungsänderungen eine echte Meinungsfreiheit zu verwirklichen. Alle Äußerungen, mit denen nicht unmittelbar zu strafbaren Handlungen aufgerufen werde, müssten straffrei sein, forderte Sezer - eine in der Türkei keineswegs selbstverständliche Auffassung. Zudem forderte er die Revision eines Verfassungsartikels, der den Gebrauch von "verbotenen Sprachen" - in der Praxis sind das vor allem kurdische Sprachen - untersagt.

Als Staatspräsident hat Sezer zwar wenig konkrete Befugnisse, doch als höchster Vertreter des Staates kann er durch Reden und Gesten öffentliche Debatten ins Rollen bringen oder beeinflussen. Der Regierungskoalition dürfte klar sein, dass er von diesen Möglichkeit regen Gebrauch machen wird. Seine Nominierung ist deshalb ein Zeichen für die Ernsthaftigkeit ihres Reformwillens - und ein Signal ans Ausland, insbesondere die Europäer.

Doch noch ist es nicht soweit. Zwischen dem Koalitionsbeschluss und der Vereidigung des zehnten Präsidenten der türkischen Republik steht noch die Wahl durch das Parlament. Die Verfassung sieht bis zu vier Wahlgänge vor, von denen der erste am Donnerstag stattfinden soll.