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Tag der Arbeit hat weniger mit Arbeitskampf zu tun als mit Folklore. | Was der 1. Mai mit einem Fußballspiel von Rapid zu tun hat. | "Wiener Zeitung": Welchen Grund gibt es denn heute noch, am 1. Mai auf den Rathausplatz zu gehen?
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Wolfgang Maderthaner: Es geht um die symbolische Repräsentation. Der 1. Mai hat einen folkloristischen und einen historischen Charakter. Dieser Aufmarsch ist nicht geringzuschätzen - wann versammeln sich in Wien schon bis zu 100.000 Menschen? Dieses Volksfesthafte hat den 1. Mai überleben lassen. Der Aufmarsch in dieser Form ist auch ein Wiener Spezifikum: Er war weltweit schon immer einer der größten, heute gibt es ihn so nur mehr in Wien. Vielleicht ist das so, weil in dieser Stadt das Theater so wichtig ist oder weil es immer schon eine Tradition des Prozessionshaften gegeben hat.
Aber was ist die Botschaft dahinter? Ist der Aufmarsch noch zeitgemäß oder feiert sich nicht vielmehr eine Organisation selbst?
Das ist natürlich auch eine Selbstdarstellung. Die Sektionen beweisen sich damit, dass es sie noch gibt. Die ersten Diskussionen, ob der 1. Mai noch relevant und zeitgemäß ist, sind unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufgetaucht. Und siehe da: Der 1. Mai hat eine Eigenlogik und eine eigene Dynamik entwickelt - er hat aus sich heraus als Ritual überlebt. Es hat auf jeden Fall etwas mit dem ursprünglichen Sinn des 1. Mai von vor 120 Jahren zu tun, als man versucht hat, ein ganz großes, massenwirksames Symbol zur emotionalen Bindung zu schaffen.
Die Zahl der Teilnehmer am Maiaufmarsch nimmt stetig ab. Braucht es jetzt andere Formen der Mobilisierung, um die Menschen auf die Straße zu bringen?
Es werden objektiv weniger Teilnehmer. Aber wenn sich alles über mediale Repräsentation abspielt, hat ein Live-Erlebnis, bei dem man Akteur und Zuseher zugleich ist, einen ganz spezifischen Reiz. Das sieht man etwa im Fußball: Sich die Champions League anzuschauen, ist zwar perfekt, aber auch ein bisschen fad. Gehe ich hingegen auf den Rapid-Platz nach St. Hanappi, spielt dort die Unfähigkeit par Excellence. Aber durch die Kraft des Live-Erlebnisses macht es mehr Spaß als die Oberflächen-Perfektion. Dieser Live-Charakter lässt Phänomene, die es nicht mehr geben dürfte, wie den 1. Mai, nach wie vor zu. Der Maiaufmarsch hat auch einen volksdemokratischen Charakter. Der Bürgermeister steht auf der Bühne und scheint jeden zu kennen, der vorbeimarschiert. Und er kennt auch die meisten.
Kennt nicht der Bürgermeister deswegen die meisten, weil es hauptsächlich Mitarbeiter der Stadt sind, die auch von den Problemen am Arbeitsmarkt gar nicht so betroffen sind?
Es gehen auch Menschen hin, die den Fährnissen des stets freier werdenden Arbeitsmarktes ausgesetzt sind. Es ist kein angeordneter Aufmarsch von geschützten Berufen. So etwas ließe sich immer und überall machen - aber es hat sich nur in Wien gehalten. Da gibt es eine Dimension darüber hinaus.
Welche? Was macht den Mythos des Maifeiertags aus?
Es ist in einem katholischen Land der einzige Feiertag, der als solcher erkämpft wurde. In Mitteleuropa war der 1. Mai vor seiner ersten Feier 1890 ein Halbfeiertag, eine Art Frühlingsbeginn und hat auch auf heidnische Ursprünge verwiesen. Es war der Tag des Pratercorsos, wo die Wiener Adligen und Großbürgerlichen paradiert sind.
Das heißt, es hat weniger mit dem Arbeitskampf zu tun als mit der Repräsentation?
Abseits der Arbeitszeitverkürzung - es war eine Demonstration für den 8-Stunden-Tag - hatte der 1. Mai mit konkreten arbeitsweltlichen Bedingungen nie etwas zu tun.
Woher kommt die Mobilisierungskraft der SPÖ im Vergleich zu anderen Parteien?
Das sind die Reste einer Parteistruktur der westeuropäischen und skandinavischen Sozialdemokratien: Die Menschen in ihrem Bezirk in Sektionen zu erreichen und zusammenzufassen. Das hat der europäischen Sozialdemokratie nach 1945 ein unglaubliches Mobilisierungspotenzial eröffnet, das sie über alle anderen demokratischen Mitbewerber hinausgehoben hat. Heute gibt es nur noch Reste dieser Organisationsstruktur, die es bald in dieser Form nicht mehr geben wird.
Wieso bildet sich diese Mobilisierungskraft der SPÖ bei Wahlen nicht ab? Bei jeder Wählerstromanalyse sieht man, dass das Arbeitersegment mehr und mehr in Richtung FPÖ wegbricht.
Es wäre sehr einfach, wenn man politische Stärke über politische Symbole herstellen könnte. Das Arbeitersegment bricht weg, das ist richtig. Aber das liegt grundsätzlich in Faktoren wie dem Ende der Facharbeit und in der Auslagerung der klassischen fordistischen Produktion in Niedriglohnländer begründet. Gleichzeitig sprechen die großen Parteien die soziale Problematik einfach nicht mehr an. Es werden schmerzliche Einschnitte ins Wohlfahrtsgefüge nicht mehr nach unten vermittelt, so dass man in vielen Fällen das Soziale dem Rechtspopulismus überlässt.
Aber gleichzeitig sichern sich die ehemaligen Großparteien am rechten Rand ab.
Würden sie das tun, gäbe es keine Abwanderung. Ich glaube nicht, dass SPÖ und ÖVP bewusst den rechten Rand bedienen. Das Problem ist dramatischer: Sie debattieren es nicht. Allein die Sarrazin-Debatte zeigt, was wir für ein unglaubliches Diskursdefizit haben. Aber der 1. Mai ist auch ein schönes Beispiel für gelebte Integration: Es gehen die Türken, die Kurden, Vertreter der unterschiedlichsten Ethnien mit. Man hätte da fast den Verdacht einer gelebten Internationalität. Aber leider kein Abbild unserer politischen Realität.
Anschließend an die Frage der Mobilisierungskraft: Entspricht die SPÖ noch einer modernen Arbeiterpartei?
Das kommt darauf an, was man unter Arbeiterpartei versteht. Im Gefolge der Finanz- und Rohstoffkrisen der 1970er Jahre und der Globalisierung kann man in Europa nicht mehr von klassischen Arbeitern reden - zumindest als relevanter gesellschaftlicher "Klasse". Der Facharbeiterstolz, den die SPÖ über 100 Jahre repräsentiert hat, ist weg. Und auf diese revolutionären Veränderungen in der soziologischen Zusammensetzung der Wählerschaft können die Sozialdemokratien in Europa nur sehr schwer Antworten findet. Der 1. Mai ist keine Antwort - es ist ein großes politisches Symbol, das aus dieser Ära herüberragt.
Wie hat die SPÖ den Wandel vom Arbeiterbildungsverein über Nadelstreifsozialismus bis heute vollzogen? Was ist von den sozialdemokratischen Urideen geblieben?
Im 20. Jahrhundert hat die Sozialdemokratie im Wesentlichen ihre historische Rolle erfüllt - die großen Fragen, nämlich Bildungsgleichheit, Chancengleichheit und Geschlechtergleichheit, sind im Prinzip gelöst. Zynisch formuliert könnte man auch sagen: Die Sozialdemokratie ist an ihrem eigenen Erfolg gescheitert. Und nach 100 Jahren tun sich Werner Faymann und andere schwer, große Ziele zu definieren.
Es fehlt der große ideologische Überbau.
Was könnte er sein? Es ist schwierig, eine sinnvolle soziale Reformpolitik zu formulieren, die sich nicht darauf beschränkt, Erreichtes zu erhalten, wie es seit 20 Jahren gemacht wird. Die Vision ist konservativ, jene der Bewahrung. Das ist kein großer ideologischer Überbau.
Zur Person
Wolfgang Maderthaner (geboren 1954) ist Historiker und Kulturwissenschafter. Er ist seit 1980 als Kurator oder Sachbearbeiter bei historischen Großausstellungen tätig. Seit Oktober 1983 leitet er als Geschäftsführer den Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (VGA) in Wien.
Buchtipp: "Acht Stunden aber wollen wir Mensch sein. Der 1. Mai. Geschichte und Geschichten." Wolfgang Maderthaner, Michaela Maier (Hg.)
Wissen: Geschichte des 1. Mai
Am 14. Juli 1889 beschloss die Zweite Internationale in Paris, den 1. Mai - im Gedenken an einen Generalstreik in den USA am
1. Mai 1886 - zum internationalen Kampftag für den Achtstundentag zu erklären.
Seit 1890 wird der 1. Mai in Wien begangen. Von staatlicher Seite wurde damals betont, dass eine Arbeitsniederlegung am 1. Mai gesetzwidrig sei. Die Arbeiter reagierten mit Ruhe und Disziplin. Vormittags gab es in Wien etwa sechzig Versammlungen, nachmittags zogen mehr als 100.000 Arbeiter in den Prater.
Am 25. April 1919 beschloss die Nationalversammlung die Erhebung des 1. Mai zum "allgemeinen Ruhe- und Festtag".
Der Maiaufmarsch in seiner heutigen Form geht auf das Jahr 1929 zurück; in zwei Zügen marschierten die Demonstranten am Rathaus vorbei. Nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 untersagte die Regierung sämtliche Maiaufmärsche. Der Parteivorstand rief daher zu legalen Massenspaziergängen am Ring auf.
In den Jahren des Nationalsozialismus war der 1. Mai der "Tag der deutschen Arbeit" (auch: "Tag der Nationalen Arbeit").
Nach Kriegsende wurde der 1. Mai wieder zum Staatsfeiertag erklärt. Die ersten Demos finden 1945 statt, der erste Aufmarsch am Ring 1946.
'Kein Kampfaufmarsch mehr'
+++ Arbeitssitzung und Frühschoppen