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Ein System, das an den Gulag erinnert

Von Ines Scholz

Politik

Katastrophale Haftbedingungen in Russlands Gefängnissen. | Moskau/Wien. Der Tod des Anwalts Sergej Magniztki hatte über die Grenzen Russlands hinaus für Aufsehen gesorgt. Der 37-Jährige starb im November 2009 im Moskauer Untersuchungsgefängnis "Matrosenruhe" an den Folgen einer Bauchspeicheldrüsenentzündung, weil ihm die Gefängnisleitung medizinische Behandlung versagt hatte. Als der Jurist nach seinen Korruptionsvorwürfen gegen kremlnahe Beamte elf Monate zuvor verhaftet worden war, war er noch kerngesund.


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Die Causa Magnitzki ist bei weitem kein Einzelfall. Sein Tod wirft ein Schlaglicht auf die unmenschlichen Haftbedingungen, die in Russland herrschen. Überfüllte, kaum durchlüftete Zellen, in denen die Insassen oft nicht einmal einen Quadratmeter Platz haben und deshalb in Schichten schlafen müssen; wo Eimer als WCs herhalten und wo wegen der mangelnden Hygiene Ratten und Ungeziefer zum Zelleninventar gehören.

Auch die medizinische Versorgung in den Haftanstalten ist katastrophal. Für die insgesamt 657 Strafkolonien und sieben Haftanstalten stehen nur 98 Gefängnis-Krankenhäuser und Heilanstalten zur Verfügung. Es fehle an Ärzten, moderner medizinischer Ausrüstung (60 Prozent der Geräte stammen aus den 1970er und 80er Jahren) und hygienischen Mindeststandards, warnte nun die russische Staatsanwaltschaft, die von Staatspräsident Dmitri Medwedew beauftragt worden war, die Zustände im Strafvollzug unter die Lupe zu nehmen. Mehr als 90 Prozent der knapp 850.000 Häftlinge, so das Ergebnis der Untersuchung, leiden an Tuberkulose, Hepatitis oder sind HIV-infiziert.

Viele erlebten "ihre Freilassung nicht mehr oder verlassen das Gefängnis als Invaliden", hatte schon im April Vize-Generalstaatsanwalt Jewgeni Sabartschuk Alarm geschlagen, der von einem Gulag-Erbe sprach.

Russland war auch bereits mehrmals vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wegen der Haftbedingungen zu Geldstrafen verurteilt worden. Diese kämen der Folter gleich, argumentierten die Richter.

Medwedew hatte nach Magnitzkis Tod 17 hohe Strafvollzugsbeamte gefeuert und eine Justizreform in die Wege geleitet, um die überfüllten Gefängnisse zu entlasten. Demnach soll es bei Freiheitsstrafen bis zu vier Jahren die Möglichkeit des Hausarrest geben und keine U-Haft mehr für geringe Steuerdelikte verhängt werden. Das kann aber nur ein Anfang sein.