Zum Hauptinhalt springen

Ein System, das sich selbst verzehrt

Von Walter Hämmerle

Politik

Zumindest eines kann man von der demographischen Entwicklung Europas nicht behaupten: Dass sie quasi über Nacht über uns hereingebrochen wäre. Im Gegenteil, die Eckdaten sind schon lange bekannt: Wir werden immer weniger, dafür aber immer älter. Das allein für sich genommen wäre vielleicht ja gar nicht so schlimm, unangenehmerweise entzieht jedoch genau diese Entwicklung unserem Wohlfahrtsstaat zunehmend seine ökonomische Grundlage. Die Folge: Quer über alle Parteigrenzen hinweg basteln Europas Regierungen an Reformen im Pensions-, Gesundheits- und Sozialbereich.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Angesagte Katastrophen pflegen die angenehme Eigenschaft aufzuweisen, zu guter Letzt doch nicht einzutreffen. Die Legende will es, dass man nur oft und eindringlich genug vor einer gefährlichen Entwicklung warnen muss, und schon setzen sich die Rädchen einer umfassenden Problemlösungsmaschinerie in Gang, so dass sich am Ende doch noch alles zum Guten wendet. Gewarnt wurde zumindest auch in Sachen demographischer Entwicklung genug, von einer umfassenden Problemlösungsmaschine ist bisher aber noch relativ wenig zu bemerken.

Europas Balance ist bedrohlich am Kippen

Als Ausweg aus dem Dilemma einer schrumpfenden und gleichzeitig vergreisenden Gesellschaft bieten sich grundsätzlich zwei Lösungen an: Entweder mehr Kinder und/oder mehr Zuwanderer. Sollte es nicht gelingen, die Balance zwischen Jungen und Alten aufrecht zu erhalten, "führt dies zu dramatischen Konsequenzen für den Generationenvertrag", wie Bundeskanzler Wolfgang Schüssel erst kürzlich formulierte. Wohlstand muss eben zuerst einmal erarbeitet werden, bevor er möglichst gerecht - was auch immer man darunter im Detail versteht - verteilt werden kann.

Und Europas Generationen-Balance ist gefährlich nahe am Kippen. Laut Eurostat lag das Bevölkerungswachstum der 15 EU-Staaten 2002 bis 2003 durchschnittlich bei nur 3,6 Promille. An der Spitze liegen hier Irland mit plus 12,2 Promille vor Liechtenstein (11,9) und Luxemburg (10,3). Österreich weist mit 2,5 Promille das viertschwächste Bevölkerungswachstum auf. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei der Zahl der Lebendgeburten. Mit 9,6 Promille (also 9,6 Lebendgeburten auf 1.000 Einwohner) liegt Österreich gemeinsam mit Italien an der drittletzten Stelle in der EU, deren Durchschnitt hier bei 10,6 Promille liegt.

Auch das "neue" Europa droht ziemlich alt zu werden

Wer nun glaubt, mit der EU-Erweiterung seien zumindest die ärgsten Bevölkerungsprobleme gelöst, irrt gewaltig. Die Situation in den Beitrittsländern ist sogar noch dramatischer als bei den EU-Mitgliedern. Von einer Verjüngung durch das "neue Europa", wie US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Kandidatenländer zu nennen pflegt, ist der alte Kontinent - zumindest bevölkerungspolitisch - weit entfernt. Sieben der zehn Kandidatenländer wiesen im letzten Jahr ein Minuswachstum auf. Lettland liegt hier mit einem Minus von 7,3 Promille vor Tschechien (minus 6,1) an der Spitze. Einen Bevölkerungszuwachs verzeichneten nur Zypern (plus 9,3 Promille), Malta (plus 4,2) und Slowenien (plus 1,1).

Mit familienpolitischen Maßnahmen allein wird sich Europa demnach also nicht aus seinem demographischen Teufelskreislauf befreien können. Ohne Hilfe von außen, also Zuwanderung, lässt sich das Schicksal einer zunehmenden Vergreisung sicher nicht abwenden.

Zuwanderung: Politisch heikel, aber notwendig

Beim Thema Zuwanderung geraten jedoch viele europäische Politiker regelrecht ins Schwitzen. Mag sie langfristig auch noch so notwendig sein, kurzfristig überwiegt in dieser Frage fast immer der Blick auf den nächsten Wahltermin. Denn Zuwanderung ist in Europa politisch nach wie vor ein "heißes Eisen". Gewinnen kann damit nur, wer Ängste schürt. Ein positiver Zugang rechnet sich allenfalls für Kleinparteien, die Wahlergebnisse um die 10 Prozent bereits als Erfolg ansehen. Die großen Volksparteien, egal ob rechts oder links der Mitte, scheuen genau aus diesen Gründen vor diesem Thema zurück.

Aber selbst wenn dem nicht so wäre, bleibt immer noch die Frage, woher die potenziellen Zuwanderer kommen sollen. Mittel- und Osteuropa fallen als "Lieferanten" aus, stehen sie doch vor dem selben Dilemma. Auch aus den USA, Kanada und Australien werden wohl kaum die Menschen in nennenswertem Ausmaß in die alte Welt (zurück-)kehren. Erstens verläuft der Migrantenstrom noch immer genau umgekehrt, und zweitens mangelt es Europa an jenem Chancenfreiraum, der für hochqualifizierte und gut ausgebildete Wanderungswillige ausschlaggebend bei der Auswahl ihrer Zielländer ist.

Angesichts des negativen Images, das Zuwanderern in Europa im Gegensatz zu den USA häufig entgegengebracht wird, meinte der österreichischen Bevölkerungswissenschafter Rainer Münz anlässlich eines Symposiums beim heurigen Forum Alpbach, "jede Gesellschaft bekommt die Zuwanderer, die sie verdient".

Blieben also die Entwicklungsländer der Dritten Welt. Wie aber sollen diese ihre eigene Zukunft meistern, wenn das hoch entwickelte, aber leider langsam vergreisende Europa ihre Wissenschaftler, Eliten und Facharbeiter in sich aufsaugt? Eine Aufstockung der ohnehin nur spärlich tröpfelnden Entwicklungshilfe wäre für diese Länder angesichts eines solchen "brain drains" wohl nur ein schwacher Trost. Man könnte es auch zynisch nennen, sollte Europa tatsächlich Bildungsprogramme vor Ort finanzieren und deren Absolventen dann für die eigenen Bedürfnisse nutzen.

Womit man wieder beim Thema Familienpolitik angelangt wäre. Denn so wie das Umweltdenken die Wirtschaft verändert hat, weil ansonsten die natürlichen Grundlagen der Produktion vernichtet worden wären, muss das Thema Bevölkerungsentwicklung das Denken und Handeln der Politik von Grund auf revolutionieren. Derzeit lebt Europa auf Kosten eines Systems, das seine eigene biologische Grundlage in Frage stellt. Die zum Teil schmerzhaften Einschnitte im Renten-, Gesundheits- und Sozialbereich sind eine direkte Folge davon.