Jair Messias Bolsonaro wurde in Brasilien lange ignoriert. Heute scheint ihm der Erfolg, Favorit in der Stichwahl um das höchste Amt im Staat zu sein, recht zu geben.
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1989 wählte Brasilien nach zwei Jahrzehnten seinen Präsidenten in freien und demokratischen Wahlen. Die junge Demokratie schien auf Erfolgskurs, das Erbe von Militärdiktatur und Sklavengesellschaft überwunden. Was ist passiert, dass am kommenden Sonntag voraussichtlich ein Verehrer der Militärdiktatur und Befürworter der Folter als Brasiliens neuer Präsident gewählt wird?
Jair Messias Bolsonaro war jahrzehntelang ein Außenseiter, dessen extremistische Positionen ob ihrer Irrelevanz in den öffentlichen Debatten belächelt wurden. Noch heute finden sich im Internet Interviews, in denen Bolsonaro die Milde der Militärdiktatur bedauert. Er wünscht sich lieber einen toten als einen homosexuellen Sohn und feuert bei Wahlkundgebungen mit einem Plastikmaschinengewehr auf die "PT-Bande". Einer breiteren Öffentlichkeit außerhalb Brasiliens ist der ehemalige Offizier seit der Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff bekannt, widmete er doch medienwirksam seine Stimme für das Impeachment einem der bekanntesten Folterer der Militärdiktatur. Es war ein Tiefpunkt in der live übertragenen Parlamentssitzung und von besonderer Symbolträchtigkeit, weil Rousseff als junge Frau unter der Diktatur gefoltert worden war.
Heute scheint der Erfolg dem lange ignorierten Tabubrecher recht zu geben. 46 Prozent wählten ihn im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl, in den Umfragen zum zweiten Durchgang liegt er weit vor seinem Kontrahenten Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT. Es kommt vermutlich mit demokratischen Mitteln ein Mann an die Macht, der Demokratie geringschätzt. Doch gewählt wird er von einer Wählerschaft, von der nur eine Minderheit die Rückkehr zur Diktatur wünscht.
Aushöhlung der Demokratie mit demokratischen Mitteln
Wir beobachten in Brasilien ein Phänomen, das weltweit an Bedeutung gewinnt: Recep Tayyip Erdogan in der Türkei, Rodrigo Duterte auf den Philippinen und Viktor Orbán in Ungarn verbindet mit Bolsonaro eine autoritäre Grundhaltung und die Kriminalisierung der Opposition. Ihre Beliebtheit verdanken sie einem konservativer gewordenen gesellschaftlichen Klima. Religion und Familie gewinnen an Bedeutung, und Werthaltungen bestimmen Wahlentscheidungen: Abtreibung, Homosexualität, Kriminalität. Demokratische Politik des Kompromisse-Findens wird als korrupt und prinzipienlos abgelehnt; rechtsstaatliches Vorgehen gegenüber vermutlich Kriminellen - wie Unschuldsvermutung oder Folterverbot - gilt als halbherzig. Dies ist ein weltweiter Trend, dessen Opfer vor allem Minderheiten und Frauen sind.
In Brasilien fanden diese Werthaltungen lange Zeit keinen politischen Ausdruck. Luiz Inácio Lula da Silva (Präsident 2003 bis 2011) und die Arbeiterpartei PT nutzten den weltwirtschaftlichen Aufschwung in den Jahren nach 2001 für sozialpolitische Maßnahmen. Bis zu den 2013 beginnenden Protesten gegen die Fußball-WM war die allgemeine Zufriedenheit sehr hoch. Danach kippte die Stimmung radikal. Für Korruptionsskandale und Wirtschaftskrise wurde die regierende Arbeiterpartei PT verantwortlich gemacht. "Anti-PT" wurde zur bestimmenden politischen Haltung. Die gemäßigten Parteien der politischen Mitte, selbst in unzählige Korruptionsskandale verwickelt, machten die PT, die Linke und die sozialen Bewegungen zum Sündenbock für alles.
Der Fluch des Verfassungsbruchs
Mit den Wahlen 2018 ist die PT von allen wichtigen Schalthebeln der Macht entfernt, ihr Einfluss in Senat und Kongress gering. Doch gleichzeitig konnte sich keine linke Alternative etablieren. Mit großem Abstand schaffte es PT-Kandidat Fernando Haddad in die Stichwahl. Besonders die Landlosen- und die Umweltbewegung, indigene Gruppen sowie Frauen engagieren sich für ihn. Schon im Wahlkampf gab es Übergriffe durch Bolsonaro-Anhänger. Nach der Wahl droht staatlich sanktionierte Repression, insbesondere gegen Landlose und Indigene, denen die Verfassung an sich Schutz vor Landraub sicherstellt. Dies ist auch der Grund für Bolsonaros Ablehnung durch große Teile der katholischen Kirche, die aber gegenüber fundamentalistischen christlichen Gruppen stark an Einfluss verloren hat.
Der Aufstieg Bolsonaros erklärt sich aus der tiefen Unzufriedenheit mit den aktuellen Zuständen. Sein Erfolg wurzelt im Image als Gegner des Establishments, das mit der demokratischen Regierungsführung der vergangenen Jahrzehnte gleichgesetzt wird. Politik gilt allgemein als korrupt, was nicht ganz falsch ist, jedoch weit über die PT hinausreicht. Trotzdem akzeptierte nach der Wahl 2014 der unterlegene Präsidentschaftskandidat Aécio Neves seine Niederlage nicht; die Wahlanfechtung verlief im Sand - aber erst, nachdem Rousseff abgesetzt worden war.
2016 beugte das Parlament die Verfassung, indem es seine Mehrheit für ein Impeachment-Verfahren ausnutzte, das nur bei schweren Verbrechen gegen die Verfassung erlaubt ist. Obwohl ein derartiger Verfassungsbruch nicht vorlag, wurde Rousseff ihres Amtes enthoben. Mitte-rechts-Parteien übernahmen die Regierungsgeschäfte, setzten ihr Programm der Privatisierung und Sozialstaatskürzungen um, was die Wirtschaftskrise verstärkte und den Unmut weiter schürte. Der für das Impeachment verantwortliche Parlamentspräsident sitzt heute wegen Korruptionsvorwürfen im Gefängnis; Brasiliens aktuellem Staatspräsidenten Michel Temer drohen nach dem Ende seiner Amtszeit diverse Strafverfahren.
Gefährdung des zivilisierten Zusammenlebens
In diesem Umfeld finden die aktuellen Wahlen statt. Bis in den September führte Lula die Meinungsumfragen an. In dieser Zeit intensivierte sich ein Diskurs, der vor den Extremen warnte: Lula und seine PT auf der einen Seite, Bolsonaro auf der anderen. Man kann der Arbeiterpartei PT und Lula viel vorwerfen: von Korruption über falsche Wirtschafts- und Umweltpolitik bis hin zu inakzeptablen Kompromissen mit mächtigen Lobbys. Extremistisch war sie jedoch niemals. Die Dämonisierung der demokratischen Linken erreichte das Ziel, die Linke vermutlich dauerhaft in die Opposition zu schicken. Sie verfehlte aber ein anderes Ziel, denn die Rede von den Extremen führte zu keinem Besinnen auf die bewährten konservativen Demokraten. Statt eines gemäßigten Anti-PT-Kurses entschieden sich die Wähler zur Überraschung vieler für einen Extremisten - wobei diese Bezeichnung nur auf Bolsonaros kulturelle, demokratie- und rechtsstaatliche Einstellungen und die Verachtung der liberalen Demokratie zutrifft.
Wirtschafts- und sozialpolitisch ist Bolsonaro ein solider Teil des Establishments, was auch die breite Unterstützung durch Unternehmen, Banken und Agrobusiness zeigt; international ist er ein treuer Verbündeter von US-Präsident Donald Trump. Die Börse scheint sich auf einen Präsidenten Bolsonaro zu freuen. Auch wenn das Militär wieder einflussreicher wird, wird das Land nicht in eine Diktatur kippen. Vielmehr wird politische und wirtschaftliche Macht weiter zusammenwachsen, die Justiz auf Linie gebracht und der Opposition die Grundlage wirksamen Agierens entzogen. Eine neue Form
autoritärer Herrschaft bahnt sich an - vielleicht sogar unter
Aufrechterhaltung von Wahlen. Warum soll das nur in Russland funktionieren?
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