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Große Koalition hat politische Ränder nicht gestärkt. | Neue Parteienlandschaft fördert den Wettbewerb. | Am Sonntag gingen einige politische Dogmen zu Bruch. Zum Beispiel, dass es bei drei linksgerichteten Parteien im Bundestag niemals mehr für eine Zwei-Parteien-Koalition, und schon gar nicht für eine rein bürgerliche Mehrheit reichen würde. Tatsächlich hat Schwarz-Gelb 20 Sitze mehr erreicht, als für die Majorität nötig wäre. Wenn auch erst nach einer Pause von elf Jahren.
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Das zweite zerstörte Dogma war, dass eine große Koalition automatisch zur Erstarkung der "politischen Ränder" führen würde. Dagegen spricht die stabile Lage der Union, die mit einem Minus von 0,5 Prozent gegenüber 2005 praktisch gleich geblieben ist. Richtig ist zwar, dass alle Oppositionsparteien zulegen konnten, am meisten die FDP und die Linken. Zumindest bei der FDP kann man wohl kaum vom "politischen Rand" sprechen. Aber auch außerhalb des Parlaments hat sich keine radikale Partei durchgesetzt. Deutschlands Demokratie zeigt sich krisenfest.
Dennoch hat sich die politische Landkarte Deutschlands so dramatisch verändert wie noch nie nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Konjunktur der Großparteien ist vorüber. Beide treten in neue Konkurrenzen und Konstellationen. Union und SPD bezeichnen sich zwar nach wie vor als "Volksparteien". Das stimmt jedoch höchstens beim Anspruch, alle Schichten des Volkes vertreten zu wollen. Bei einem Stimmenanteil von 23 Prozent kann die SPD zahlenmäßig jedoch kaum noch als Großpartei bezeichnet werden.
Rot-Rot-Grün warten auf ihre Chance
Ob man diese Schwankungen als Schwäche bezeichnen will, bleibt Ansichtssache. Fest steht nur, dass bei immer mehr Parteien in einem gleich großen Parlament immer weniger Sitze auf die einzelnen Parteien entfallen. Viele mittlere und kleinere Parteien gelten immer noch als Schreckgespenst, weil die zersplitterte Weimarer Republik noch im Gedächtnis ist, deren Scheitern die größte Katastrophe auf deutschem Boden auslöste.
Doch auch dieses Dogma ist gefallen. Im Bundestag sind derzeit sechs Parteien in fünf Fraktionen vertreten, die sich ihrerseits in zwei Lager aufteilen. Die drei Oppositionparteien mögen zueinander zwar in Konkurrenz stehen - von der Gefahr eines populistischen Bieterwettlaufs wurde bereits gesprochen -, andererseits hätten diese drei Parteien bei einer der nächsten Wahlen die reale Chance, einen Politikwechsel herbeizuführen. Das ist gut für den Wettbewerb.
In beiden Lagern kam es aber zu eklatanten Gewichtsverschiebungen: Als Union und FDP zuletzt 1994 eine schwarz-gelbe Koalition eingingen, betrug der Stimmenabstand zwischen den Partnern immerhin noch rund 35 Prozent. Die Christdemokraten waren sechsmal so stark wie die Liberalen. Heute sind sie nur noch gut zweimal so groß, der Abstand schrumpfte auf 15 Prozent. Eine selbstbewusste FDP wird Angela Merkel das Regieren nicht leichter machen - Wunschkoalition hin oder her. Die Knackpunkte werden sein: Zeitpunkt und Art der Steuererleichterungen, Aufhebung bereits vereinbarter Mindestlöhne, Gesundheitsreform, Kündigungsschutz, Terrorbekämpfung.
Auf der linken Seite das Spiegelbild: Der abtrünnige Lafontaine hat seiner politischen Mutter SPD das Fürchten beigebracht. Auch wenn die SPD vorgestern mehr verloren hat, als die Linke gewann, ändert dies nichts daran, dass er den Niedergang seiner früheren Partei eingeleitet hat. Der Abstand der Linken zur SPD beträgt nur noch 11 Prozent.
Schwarz-Gelb steht unter einem enormen Erwartungsdruck: Die Koalition muss beweisen, dass sie den Abbau der gigantischen Schuldenlast sozial gerecht vornehmen und gleichzeitig die Steuerlast senken kann, was der Quadratur des Kreises gleichkommt. Gleichzeitig muss sie zeigen, auf welche Weise die Bildungs- und Forschungsziele finanziert werden können. Sie muss - gegen die Mehrheitsmeinung - die Gewinnung von Atomenergie zeitlich strecken. Sie muss die Gesundheitsreform behutsam in eine staatsfernere Richtung umsteuern, ohne die Belastungsquoten für die Versicherten zu erhöhen. Vor allem aber muss die neue Regierung in Deutschland die Folgen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise bewältigen und gleichzeitig einen Zusammenbruch des Arbeitsmarktes verhindern.
Dass sie bei jeder dieser Herkulesaufgaben auf den erbitterten Widerstand der Opposition stoßen wird, ist unvermeidlich. Frank-Walter Steinmeier, falls er den SPD-Parteitag im November überlebt, will sich als Oppositionsführer profilieren, er hat also gar keine Wahl. Umso mehr Verantwortung kommt auf die Wirtschaftsverbände, insbesondere auf die Gewerkschaften zu.
Die SPD muss ihre Niederlage als Chance zur Erneuerung be- und ergreifen. Und sie wird begreifen müssen, dass Wahlen nur in der Mitte gewonnen werden. Ein zweites Bad Godesberg ist ihr dringend zu empfehlen. Die Flügelkämpfe, die die Sozialdemokratie seit ihrem Entstehen begleiten und belasten, haben sich teilweise nach außen verlagert (Konfrontation mit Grünen und Linkspartei), teilweise regional verstärkt (Ost-West) und sind strukturell im Parteikader eingebaut. Das ist fatal.
Nur eine klar konturierte, einhellig selbstbewusste Sozialdemokratie kann wieder die Rolle ergreifen, für die sie in der Bundesrepublik gebraucht wird. Ob Frank-Walter Steinmeier die Einigungs- und gleichzeitig Erneuerungskraft hat, wird man sehen. Spätestens am 9. Mai 2010, wenn das bevölkerungsreichste Bundesland, Nordrhein-Westfalen, einen neuen Landtag wählt.