Einige politische Überlegungen zu der Frage, wie man am 26. Oktober die Eigenständigkeit und Einzigartigkeit der Republik Österreich in Zeiten eines Vereinigten Europa feiern soll.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Das Begehen von Nationalfeiertagen verfolgt zunehmend die Tendenz, zur Routineangelegenheit zu werden. Auch der 26. Oktober, dessen Verknüpfung mit der österreichischen Neutralität für die Zweite Republik eine tiefgreifende Symbolwirkung hatte, ist in der Art und Weise, wie er begangen wird, kritisch zu hinterfragen. Ihn zum Hochfest für Fitnessmärsche zu machen, ist kaum mehr zeitgemäß, ist doch deren Attraktivität im Hinblick auf die zahlreichen Marathonläufe und Triathlonkonkurrenzen, die unsere Republik überziehen, mittlerweile sehr eingeschränkt.
Stolz und Ungewissheit
Auch die traditionelle Leistungsschau des österreichischen Bundesheeres wird angesichts der desaströsen Wehrpolitik der Bundesregierung eher als peinliche Camouflage denn als glaubwürdiges Symptom einer zeitgemäßen Landesverteidigung angesehen werden.
Es gibt gute Gründe, sich die Frage zu stellen, wie man am 26. Oktober die Eigenständigkeit und Einzigartigkeit der Republik Österreich feiern soll. Die folgenden Gedanken versuchen, die historischen Errungenschaften mit den Ungewissheiten zukünftiger Entwicklungen und Erwartungen zu verbinden.
Im Rückblick feiert man die Zweite Republik mit Recht als Erfolgsstory. Sie war eine Ära eines kulturellen und wirtschaftlichen Aufstiegs, der Wohlstand, Freiheit und internationale Anerkennung brachte. Es dauerte allerdings Jahrzehnte, bis die Meinungsforscher die Existenz eines eindeutigen österreichischen Nationalbewusstseins feststellen konnten. Es war dies das Ergebnis einer ständig stärker werdenden Identifikation des österreichischen Volkes mit seinem Staat, die phasenweise sogar in einem unreflektierten Patriotismus sichtbar wurde.
Die Entstehung des Nationalbewusstseins verlief gleichsam pa-rallel zu einem Weg in eine Modernisierung, die in Österreich sehr differenziert stattfand und sich in vielen Bereichen nur par-tiell ereignete. Das politische System war auf Stabilität ausgerichtet und gab einer radikalen Modernität wenig Chancen.
Ausgewogenheit
Den Wiederaufbau der Republik gewährleistete eine politische Ordnung, in der die österreichischen Besonderheiten konstitutive Elemente waren: eine ausgewogene Machtverteilung zwischen zwei Großparteien, die auf einer gemeinsamen Verantwortung für das Land gründete, allerdings bald zu einem Machtkartell ausartete, in dem es hauptsächlich um eine proporzmäßige Verteilung der Besitztümer ging: eine Sozialpartnerschaft, die als Garant des inneren sozialen Friedens angesehen wurde, die jedoch immer mehr an Innovationskraft verlor; und schließlich eine Konkordanzdemokratie, die in ihrer Ausprägung den Konsens in den Mittelpunkt stellt und dadurch vernünftige und interessensgerechte Entscheidungen ermöglichte, allmählich aber den Eindruck erweckte, nur mehr zu unproduktiven und fortschrittshemmenden Kompromissen fähig zu sein.
Alle diese Faktoren, denen man in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik eine stabilisierende und entwicklungsfördernde Bedeutung zumessen konnte, werden heute kritisch betrachtet. Die Realität des österreichischen Parteienstaates hat wesentlich zum Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Politik beigetragen.
Der Weg nach Europa
Der immer wieder kritisierte Reformstau stellt vor allem der Regierung, aber nicht nur ihr, ein schlechtes Zeugnis aus. Dazu kommt die Unempfindlichkeit von weiten Teilen der politischen Klasse gegenüber den Einstellungen und Wünschen der Gesellschaft. Sie vermittelt der Bevölkerung das Gefühl der Ohnmacht und fördert die Herausbildung eines "Wutbürgertums". Die in den letzten Jahren aufgeflammte Diskussion über eine Verbesserung und Weiterentwicklung der Ins-trumente der direkten Demokratie ist merkbarer Ausdruck der politischen Frustration.
Aber befassen wir uns am Nationalfeiertag nicht nur mit Österreich, lenken wir unseren Blick auch auf Europa und seine Zukunft. Erinnern wir uns an das, was man im Laufe der Informationskampagne vor der Volksabstimmung am 12. Juni 1994 über den Beitritt zur Europäischen Union dem österreichischen Volk auf den Plakatwänden versprochen hatte: "Europäer werden wir, Österreicher bleiben wir."
Was damals apodiktisch versprochen wurde, ist bis heute wishful thinking, also Wunschdenken geblieben. Österreicher blieben wir - das mag uns freuen. Dass wir Europäer geworden sind, kann mit Recht bezweifelt werden. Wir sind auf dem Weg zur europäischen Einigung viel weiter, als uns selbst bewusst ist. Die Meinungsumfragen zeigen im Wesentlichen eine gleichbleibende Einstellung der österreichischen Bevölkerung zur EU: viel Kritisches in manchen Bereichen der Union, aber dennoch eine eindeutige Bekundung, bei der Union zu bleiben und den Weg der europäischen Einigung nicht zu verlassen.
Viele Gründe sind dafür maßgeblich, dass die öffentliche Meinung in Österreich wenig EU-Begeisterung zeigt. Das Geschehen in Brüssel kann dem Normalbürger schwer nahegebracht werden. Die Institutionenvielfalt, die verschiedenen Ebenen und Akteure machen es schwer, Entscheidungsprozesse transparent und verständlich zu machen. Das gedämpfte österreichische Interesse in EU-Angelegenheiten hat aber noch eine andere Ursache, die im eigenen Land liegt. Es ist die fehlende Bereitschaft der politischen Akteure, die EU zum Thema des politischen Alltags zu machen. Europa wird verdrängt, europäische Herausforderungen werden verschwiegen anstatt zum Gegenstand eines permanenten Dialoges zu werden.
Österreich und die EU
Das öffentliche Interesse an Europa wäre in Österreich wahrscheinlich stärker vorhanden, wenn die österreichische Politik in Bezug auf Europa mehr Konturen erkennen ließe. Man wirft uns hin und wieder vor, in der EU eher die Rolle eines Trittbrettfahrers als die eines Mitgestalters wahrzunehmen.
Österreichs Europapolitik ist tatsächlich von einer unauffälligen Zaghaftigkeit bestimmt - man will nicht auffallen. Auch nicht mit guten Ideen, die den Diskurs auf europäischer Ebene beleben würden. Auch als kleiner Mitgliedstaat in der EU hat Österreich Chancen, sich zu profilieren, nützt sie jedoch nicht. Dadurch wird ein möglicher Aktionsradius innerhalb der europäischen Integration unterschätzt. Es täte der EU gut, wenn sich kleinere und mittelgroße Mitgliedsländer mehr bemerkbar machen würden.
Durch Ideen auffallen - das wäre ein Konzept für die Zukunft, eine wünschenswerte Maxime für die Europapolitik der Regierungsparteien, ebenso aber auch für die Oppositionsparteien, die ein eher klägliches Bild in der Europadiskussion bieten. Parteipolitischer Provinzialismus dominiert, von dem vom Soziologen Ulrich Beck immer wieder geforderten Kosmopolitismus, zu dem die europäische Einigung führen soll, ist weit und breit nichts zu sehen. Österreich und Europa - eine Schicksalsgemeinschaft: das sollte Österreich seiner Bürgerschaft am Nationalfeiertag vor Augen führen. Warum begeht man den Nationalfeiertag nicht zusammen mit dem Europatag am 9. Mai jeden Jahres? Wenn dies alle Mitgliedstaaten der EU täten, wäre das ein unübersehbares Zeichen der Europäisierung des Kontinentes.
Zurück zur Politik
Zur Klarstellung: Ich plädiere nicht für die Abschaffung des österreichischen Nationalfeiertages. Ich meine aber, dass dieser Chancen einer Repolitisierung des öffentlichen Diskurses bietet. Es sollte ein Tag einer ausgewogenen Bedachtnahme auf die Vergangenheit und die Zukunft sein, einer Verstärkung des Bewusstseins der Symbiose zwischen Österreich und der europäischen Einigung.
Konkret bedeutet das auch, dass wir auf dem Weg der Aufarbeitung unserer eigenen Geschichte fortschreiten müssen. Dieser Prozess setzte relativ spät ein, es gibt noch immer Bereiche, in denen Verdrängung und Beschönigung den Zugang zur historischen Wahrheit erschweren.
Die österreichische Geschichtswissenschaft hat in den vergangenen Jahren dazu Großes geleistet, sie ist auf ihrem Weg der Aufarbeitung aber noch nicht am Ende. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ist eine Voraussetzung dafür, dass europäisches Vertrauen entsteht. Auch hier könnte Österreich Impulsgeber sein.
Nationalfeiertage sollten mehr sein als ein oberflächlicher Rückblick in die Vergangenheit. Ebenso wäre ein verwaschener Blick in die Zukunft zu wenig. Sie müssen mehr als zeremonielle Ereignisse bieten. Man sollte versuchen, den österreichischen Nationalfeiertag zu einem Tag des Dialogs zu machen, in dem man dem schaulustigen Publikum nicht nur "Tage der offenen Tür" anbietet, sondern bei offenen Türen einen Dialog über Österreich und seine Zukunft führt.
Visionen gesucht
Nationalrat, Bundesrat, Landtage und Gemeinderäte - sie alle sollen an diesem Tag eine besondere Plattform für eine politische Diskussion mit dem österreichischen Volk sein. Es wäre auch interessant, an diesem Tag zu erfahren, wie sich die Regierung unseres Landes die Zukunft der Republik Österreich vorstellt. Allerdings nicht als koalitionäres Regierungsprogramm, sondern als mutige Vision zumindest für die nächsten zehn bis 20 Jahre.
Wir werden den Nationalfeiertag am 26. Oktober 2014 in der traditionellen und üblichen Form begehen. Die Chancen, dass man gewohnte Rituale aufgibt, sind gering. Von der etablierten Politik ist hier kaum etwas zu erwarten. Es wäre eine interessante Herausforderung, wenn sich Verantwortungsträger der Zivilgesellschaft, die in vielen Bereichen Bemerkenswertes zur Veränderung der Gesellschaft leisten, um ein Konzept bemühen würden, wie man künftigen Nationalfeiertagen nicht nur ein neues Gesicht geben könnte, sondern zu einem Ereignis machen könnte, das zu weiterführendem Denken anregt.
Heinrich Neisser, geboren 1936, Jurist und Politiker (ÖVP), war Staatssekretär, Föderalismusminister, Klubobmann und Zweiter Nationalratspräsident. Von 1999 bis 2007 war Neisser Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls der Universität Innsbruck; heute ist er Obmann der "Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform".