Zum Hauptinhalt springen

Ein Tag für Selbstreflexion

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Die Republik hat gerade keinen Lauf. Das hat nicht nur, aber doch auch mit der ÖVP zu tun.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die Republik hat gerade keinen Lauf. Der Nationalfeiertag kommt deshalb zur rechten Zeit für eine kritische Selbstreflexion und eine nüchterne Standortbestimmung in einem Moment, in dem düstere Schlagzeilen auf Land und Leute niederprasseln.

Das ökonomische Fundament trägt nach wie vor den Wohlstand und sozialen Frieden. Allerdings steht Österreich wie ganz Europa am Beginn eines Umbruchs, der sowohl die Gefahr einer De-Industrialisierung dank dauerhaft höherer Energiekosten wie die Chance zur Re-Industrialisierung durch die Rückverlagerung wichtiger Branchen in sich trägt. Hier ist Österreich zwar zur Hauptsache Passagier, aber es wird auch innerhalb Europas Gewinner und Verlierer geben. Die Leistungskraft der nationalen Wirtschaft und die Qualität von Politik und Verwaltung entscheiden, wo Österreich am Ende landen wird.

Damit stellt sich die Frage, wie es um das politisch-administrative Fundament der Republik bestellt ist. Nicht sehr gut, jedenfalls gemessen an dem, was der Eigenanspruch sein muss. Eine für nach 1945 einmalige Phase politischer Instabilität geht mit einer grundsätzlichen Vertrauenskrise der Politik einher.

Im Fokus dieser Entwicklungen steht spätestens seit dem Ibiza-U-Ausschuss im Jänner 2020 die ÖVP. Folgenreicher als die Lawine an strafrechtlichen Ermittlungen gegen Ex-Kanzler Sebastian Kurz und sein Umfeld ist die grassierende Schuldvermutung gegen die Volkspartei. Die Strategie der Kanzlerpartei, Schuld und Verantwortung vorwiegend bei allen anderen zu suchen, hat mit dazu beigetragen, das Recht auf die Unschuldsvermutung in der Debatte zu unterlaufen.

Die Krise der ÖVP zieht unweigerlich auch die Stabilität der Republik in Mitleidenschaft. Das ist nur zum geringsten Teil eine Folge des vergangenen Wahlergebnisses, das die Partei zur stärksten Kraft machte. Viel entscheidender ist die Rolle der ÖVP als staatstragende Kraft nach 1945, was sich noch in den kleinsten Verästelungen der Republik widerspiegelt.

Dieser Verantwortung wurde das Krisenmanagement der ÖVP bisher in keiner Weise gerecht. Niemand erwartet, dass die ÖVP in den Chor derjenigen einstimmt, die der Partei alles Schlechte zutrauen. Das Wissen um die eigene Bedeutung beinhaltet jedoch auch die Verpflichtung zur ehrlichen Aufarbeitung eigener Verfehlungen.

Ohne eine solche Katharsis wird weder die Partei noch die Republik zur Ruhe kommen. Anschließend könnte man sich dann sogar mit dem Machtmissbrauch bei anderen Parteien eingehender beschäftigen. Es klingt paradox, aber derzeit ist es vor allem die ÖVP, die genau das verhindert.